An der Schwelle zum Traum – Teil 09

Kapitel Dreißig Ein neuer Aufbruch ins Leben
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Es war ein milder Herbstabend, als sich die kleine Runde im Wohnzimmer von Herrn Ahmad versammelte.
Wir saßen im Halbdunkel, der Schein einer alten Walnusslampe warf warme Kreise auf den Boden.
Muna blätterte in einem kleinen Buch, das sie noch nicht zu Ende gelesen hatte. Ihr Vater lehnte entspannt im Sessel und überflog die Schlagzeilen einer aufgeschlagenen Zeitung.
Plötzlich hob Muna den Blick. Es war, als sei sie an eine lange aufgeschobene Frage erinnert worden. Ihre Stimme war ruhig, aber voller Aufrichtigkeit:
„Numan… wann bist du eigentlich aus dem Gefängnis entlassen worden? Und wie?“
Ich schwieg einen Moment, warf Herrn Ahmad einen kurzen Blick zu und antwortete dann leise, aber deutlich:
„Es war an einem Mittwoch. Der sechzehnte November 1974. Der dreißigste Tag des Ramadan – kurz vor dem Fest.
Ein Tag, den ich niemals vergessen werde. Für mich war er wie eine Schwelle – hinter mir ein Leben, in dem alle Türen verschlossen waren, und vor mir eines, das sich langsam wieder öffnete… aber nicht weit.“
Muna zog leicht die Augenbrauen hoch. Ihre Stimme war bewegt:
„Kurz vor dem Fest? Mein Gott… Und wie war das?“
„Man brachte mich vor den ersten Ermittlungsrichter im Justizpalast von Damaskus. Er überflog die Akte, sah mich lange an – dann sagte er mit frostiger Ernsthaftigkeit: ‚Ich will dich hier nie wieder sehen.‘
Er reichte mir meinen Ausweis zurück… und ließ mich gehen.“
Herr Ahmad senkte den Blick, als habe er plötzlich eine ferne Erinnerung zurückgewonnen. Dann sagte er nachdenklich:
„Und war damit wirklich alles vorbei?“
Ich atmete tief durch, als müsste ich mich noch einmal in diesen Moment zurückversetzen:
„Nein…
Der Richter sagte mir: ‚Bevor du nach Hause gehst, musst du zur Parteizelle in deiner Stadt gehen und einen Antrag auf Aufnahme in die Baath-Partei stellen – wenn du Sicherheit willst. Für dich und deine Zukunft.‘“
Muna schnappte leise nach Luft. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch:
„Und… hast du?“
Ich lächelte schwach, fast gequält, dann fuhr ich fort:
„Mein Großvater mütterlicherseits wartete bereits im Gerichtssaal auf mich – als hätte er gespürt, wo ich war.
Er ließ meine Hand keinen Moment los. Wir gingen durch die Straßen von Damaskus, wie ein Mann, der ein Kind durch einen Sturm führt.
Er bezahlte den Bus, hielt meine Hand bis zum Aussteigen – und brachte mich direkt zum Laden meines Vaters.
Dort… wurde ich empfangen. Mit einer Freude, die man nicht in Worte fassen kann.“
Muna schloss für einen Moment die Augen, als wolle sie sich das Bild ausmalen. Dann fragte sie leise:
„Und… wie war das Wiedersehen mit deiner Mutter?“
Numans Stimme senkte sich von selbst, als wäre sie von der Erinnerung durchdrungen, zitternd und still zugleich:
„Sie wartete am Türrahmen. Als sie mich sah, stürmte sie auf mich zu wie ein Strom, der endlich die Dämme des Schweigens bricht. Sie umarmte mich, legte mein Gesicht in ihre beiden Hände, und ihre Augen… ihre Augen regneten Sehnsucht und Gebet.“
Er schwieg kurz, dann fügte er hinzu:
„Sie drückte mich fest an sich… und weinte. Weinte, als wolle sie sich vergewissern, dass der Traum wirklich zurückgekehrt war.“
Er fuhr fort:
„Ich trat aus dem Justizpalast in Damaskus wie jemand, der das Atmen neu lernen muss. Die Luft war schwer – nicht wegen ihrer Dichte, sondern weil sie von Tagen durchdrungen war, die mit keinem anderen zu vergleichen sind.
Im Warteraum voller blasser Gesichter sah ich ihn… den Großvater meiner Mutter.
Er stand dort, regungslos, stolz wie ein geduldiger Berg, gestützt auf einen unsichtbaren Stock aus Gebeten. Seine Augen erkannten mich noch vor meinen eigenen Schritten, als wollte er mich auffangen, bevor ich selbst begriff, dass ich frei war.
Ich ging auf ihn zu, zögernd, als hallte mein Echo noch zwischen den Mauern, wie jemand, der nicht glauben kann, dass er überlebt hat.
Wenige Minuten zuvor hatte ich noch vor dem Ermittlungsrichter gesessen. Ein Mann Mitte fünfzig, weder kalt noch freundlich. Er sah mich an, als sähe er einen Geist, der aus einem verlorenen Schicksal zurückgekehrt war.
Er bedeutete mir, näher an seinen Schreibtisch zu treten, und sagte ruhig:
„Ich möchte dich hier nie wieder sehen.“
Dann streckte er die Hand aus. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er meinen Personalausweis – wie jemand, der einem Erstickten seinen Atem zurückgibt.
Er reichte ihn mir mit Bedacht, und sah mir dabei fest in die Augen – als spräche er zuerst zu sich selbst, bevor er zu mir sprach:
„Bevor du dein Haus erreichst, wirst du dich bei der örtlichen Parteizelle melden und ein Aufnahmegesuch für die Arabische Sozialistische Baath-Partei stellen.“
Er hielt inne, dann sprach er weiter, seine Stimme blieb ruhig, doch sie war schwer – voller Bedeutung, irgendwo zwischen Warnung und Befehl. Seine Augen durchmaßten die kleine, leere Kammer, nur er und ich… und der fest verschlossene Türflügel hinter mir.
„Wenn du Sicherheit willst… für dein Leben, deine Ausbildung, deinen Beruf, dein Ansehen… dann führt nur ein Weg, mein Sohn.“
Seine Worte fielen wie Steine in einen tiefen Brunnen.
Ich antwortete mit einem stummen Blick – weder Zustimmung noch Ablehnung, nur das Schweigen eines Menschen, der weiß: Das Überleben bedeutet nicht Freiheit, sondern nur einen kurzen Waffenstillstand mit der Angst.
Draußen – mein Großvater nahm meine Hand, als hielte er einen lang ersehnten Traum… oder einen zerbrechlichen Schrecken, der sich verflüchtigen könnte.
Er sagte kaum ein Wort, und doch brauchte es keine. Seine Hand, fest um meine, sprach alles aus.
Er ließ sie den ganzen Weg nicht los. Als hätte er Angst, ich könnte mich plötzlich in Luft auflösen – wie Träume, die mit dem Morgengrauen verschwinden.
Währenddessen versuchte ich mich zu überzeugen, dass ich nicht mehr im Gefängnis war.
Als wir die Stadt erreichten, führte er mich zum Laden meines Vaters im Basar.
Der Laden war überfüllt – Männer warteten geduldig auf ihren Haarschnitt vor dem Fest. Mein Vater stand über seinem Stuhl gebeugt, konzentriert mit der Schere in der Hand.
Dann sah er mich.
Er erstarrte. Für einen Atemzug. Dann lächelte er – ein Lächeln, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Die Schere fiel zur Seite. Er kam auf mich zu, hastig, mit weit geöffneten Armen, und umarmte mich, wie er es nie zuvor getan hatte.
Dann wandte er sich an seine Kunden – mit bebender Stimme:
„Verzeiht mir… Unser Fest hat soeben begonnen.“
Wir begleiteten Großvater zu seinem nahen Haus. Und dort, an der Tür, stand meine Mutter – ihr Herz schien einen Schritt vor ihr zu gehen.
Kaum hatte sie mich erblickt, da brach ein Schluchzen aus ihr hervor – nein, kein gewöhnliches Weinen, sondern ein Laut, der aus ihren Tiefen kam, wie ein Gebetsruf in einer regnerischen Nacht: ein Ruf, der die Türen des Herzens öffnet und die Erinnerung tränkt.
Sie umarmte mich, legte mein Gesicht zwischen ihre Hände, als wollte sie es beruhigen: Du bist zurück. Du bist nicht ganz verschwunden. Ihre Augen glichen zwei Quellen – Ströme aus Sehnsucht und Gebet – sie wuschen mich von einer alten Angst rein.
Plötzlich durchbrachen Jauchzer der Frauen das Haus meines Großvaters – wie Glocken der Rettung, die in die Ohren der Lebenden dringen. Aus der Küche stürmten Mamas Verwandte herbei, ließen das Kochen, Backen, und Vorbereiten stehen, riefen laut und lachend:
„Er ist zurück! Numan ist zurück – bei Gott, er ist wirklich zurück!“
Das Haus meines Großvaters war zu klein für all diese Freude – sie ergoss sich auf die Gehwege, stieg mit duftendem Rauch empor, klopfte an die Türen der Nachbarn: Numan ist zurückgekehrt.
Hände bereiteten das Fastenbrechen vor, Herzen beteten vor Glück – und ich? Ich versuchte zu glauben, dass ich tatsächlich wieder da war. In mir war noch der Rest eines alten Fessels – nicht ganz gelöst.
Noch bevor der Muezzin zum Abendgebet rief und wir uns zum Iftar setzten, fiel mir wieder dieser Satz des Richters ein – und der, den er nicht ausgesprochen hatte. Jener Satz, der sich in seiner Stimme verbarg, in seinem Blick, in der Art, wie er meine Ausweiskarte hielt.
Ich wandte mich zu meinem Vater und sagte, mit einer Stimme, die wie jemand klang, der aus der Freude hinaus um Erlaubnis bittet, einer Pflicht zu folgen:
„Vater… der Richter hat mir geraten, erst beim Parteibüro in Duma vorbeizuschauen, bevor ich nach Hause gehe.“
Er sagte nichts. Nur nahm er meine Hand – wie zuvor Großvater – und wir gingen gemeinsam. Der Weg war nicht weit, wir kannten ihn gut; das Büro lag nur wenige Straßen vom Haus meines Großvaters entfernt.
Doch als wir dort ankamen, fanden wir die Türen verschlossen, den Ort leer.
Ein Nachbar kam auf uns zu, die Freude stand in seinem Gesicht, während er uns begrüßte und lächelnd sagte:
„Morgen ist das Fest, Abu Numan. Das Büro ist geschlossen – sie kommen erst nach dem Eid al-Fitr zurück.“
Ich schaute meinen Vater an. Er seufzte und sagte mit einem Ton, in dem sich Vorsicht mit Ergebung vermischte:
„Alles zu seiner Zeit… und heute, mein Sohn – ist dein Tag. Komm, wir müssen uns beeilen, es sind nur noch wenige Minuten bis zum Gebetsruf.“
Und doch – obwohl ich nicht mehr im Gefängnis war, hatte ich das Gefühl, dass ich es noch nicht ganz verlassen hatte.
Nach dem Fastenbrechen, während sich der Klang des Muezzins über den Horizont legte wie ein neues Gestirn, das am Himmel des Festes aufgehängt wurde, bat mein Vater mit ruhiger Stimme um Erlaubnis, in seinen Laden zurückzukehren.
Die Kunden, Nachbarn und einige Freunde waren noch da – keiner hatte es eilig zu gehen. Jeder saß da, als warte er auf seinen Auftritt in einem nächtlichen Ramadanprogramm voller Geschichten, Rasur und Tee.
Damals wusste ich nicht, dass dieser Laden ein zweites Herz hatte – ein Herz, das für andere schlug, gleich nebenan, in seiner sinnbildlichen Seite: das kleine Restaurant von Abu Rashid al-Juban, einem Freund meines Vaters.
Man nannte ihn „der Minister“ – nicht etwa, weil er der Macht nahe war, sondern wegen seines feinen Sinns für die Anordnung von Tellern und das kunstvolle Dekorieren der Tafel.
Abu Rashid – mit seinem sanften Bart und der warmen Stimme – bereitete das Iftar wie ein Kunstwerk zu. Er trug es wie ein Geschenk herüber und stellte es in Vaters Laden, wo jeder davon essen konnte, ohne aufzustehen, ohne seinen Platz im Kreis der Geschichten und Begegnungen aufzugeben.
Die Teegläser? Ach, das war eine andere Geschichte…
Der Tee meines Vaters war eine Zeremonie der Zärtlichkeit. Das Feuer war leise, das Wasser floss mit einer sicheren Hand, und der Tee selbst wurde im richtigen Moment hinzugegeben – fast wie ein Zauber.
Wer von diesem Tee trank, sagte stets denselben Satz, als wäre es ein unumstößliches Naturgesetz:
„So viel Tee du auch trinkst – nichts schmeckt wie der, den Numans Vater macht.“
Alle wiederholten diesen Satz, als sei er ein gemeinsames Urteil, das niemand in Frage stellte. Und gemeinsam priesen sie die Speisen von Abu Rashid – seine Ordnung, die Harmonie seiner Zutaten: weißer Käse, Marmelade, Datteln, Oliven, Eierstücke, geröstetes Brot, ein Hauch von Thymian am Rand.
Dazu kamen die Schüsseln mit Hummus und Ful – mal einzeln, mal kunstvoll kombiniert.
So war Vaters Laden im Ramadan – ein Ort der Freundlichkeit, eine Tafel der Großzügigkeit, ein Raum für Geschichten.
Und alle, die dort saßen, würden sehnsüchtig auf den nächsten Ramadan warten, um zu schwören:
„Die Wiederholung der Geschichte ist genauso süß wie ihr erstes Erzählen.“
Ich bat alle höflich um Erlaubnis, mich zurückzuziehen – zurück ins Haus, in mein Zimmer.
Wie sehr sehnte ich mich nach jener innigen Begegnung mit dem Wasser, nach der stillen Zärtlichkeit frischer Kleidung und einem Bett, das sich wie Umarmung anfühlte.
Jede Zelle meines Körpers schrie:
Schlaf… ein tiefer, langer Schlaf, der die inneren Stimmen zum Schweigen bringt, die noch immer zitterten.
Meine Mutter wollte mich begleiten – wie immer, wenn ich auch nur eine Stunde von ihr getrennt war. Wie viel mehr nach diesen zehn Tagen und Nächten?
Doch ich bestand darauf, dass sie blieb. Ich strich sanft über ihre Hand und sagte:
„Bleib bei deinem Vater, bei den Kindern, bei den Frauen… Ich will nur duschen und schlafen. Und ich glaube, ich werde nicht vor dem zweiten Festtag wieder aufwachen.“
Und – welch Glück! – meine Mutter kam nicht mit.
Hätte sie gesehen, was geschah, hätte sie gehört, was gesagt wurde – sie hätte diese Nacht kein Auge zugemacht.
Als ich die große Tür unseres Hauses öffnete, stieg mir der Duft nassen Erdbodens entgegen, begleitet vom fernen Lachen spielender Kinder im Hof.
Es war, als wolle das ganze Haus – mit all seinen Winkeln – mich mit offenen Armen empfangen, wie einen Sohn, der lange auf sich warten ließ…
Großvater trat aus dem Zimmer.
Sein Gesicht – nie zuvor hatte ich es so gesehen – war finster wie eine Sommerwolke, die den Donner verschluckt. Die Adern an seinem Hals schwollen vor Zorn, und sein Blick traf mich wie ein Pfeil, der aus einem Bogen unheimlicher Stille geschossen wurde.
Noch ehe ich fragen oder mich wappnen konnte, traf mich seine Hand.
Ein Schlag – nicht ins Gesicht, sondern in die Seele.
Ein Schlag, der eine uralte Erinnerung in mir weckte – der Schlag des „Politischen Sicherheitsbaus“.
Ich fiel nicht, aber ich wankte.
Es war, als hätte sich der Boden unter mir geneigt, mein Kopf drehte sich, und jede Stimme in mir verstummte – als hätte selbst der Ton Angst bekommen vor sich selbst.
Auch meine Sinne verweigerten jedes Wort.
Ich weiß nicht … War dieser Schlag eine Frage?
War mein Schweigen eine Antwort – ungenügend, unheilvoll, ohne Trost?
Bevor ich „Warum?“ sagen konnte, trat mein Großonkel Abu Salah, Großvaters jüngerer Bruder, ein. In seinem Gesicht lag eine leise Besorgnis. Sanft, fast beschwörend, nahm er Großvaters Hand, als wolle er einen Sturm zurückhalten, der gerade zu brüllen begann.
„Beruhige dich, Bruder“, sagte er leise. „Lass uns erst verstehen, was geschehen ist – während seiner Abwesenheit.“
Dann wandte er sich mir zu, sah mir tief in die Augen, als suche er darin einen Funken Reue. Mit einer Stimme, die versuchte, das Zerbrochene zu heilen, sagte er:
„Numan … geh zu deinem Großvater. Küsse seine Hand. Bitte ihn um Verzeihung – nicht für dich, sondern für das, was dein Verschwinden über uns gebracht hat.“
Ich stand auf – als würde ich einen Berg aus Fragen mit mir schleppen, Fragen, auf die es keine Antwort gab.
Zwischen einem Schritt und dem nächsten zögerte ich.
Wie sollte ich mich für eine Schuld entschuldigen, die ich nicht begangen hatte? Wie die Last einer Angst tragen, die man mir eingepflanzt hatte?
Doch ich trat vor. Mein Blick gesenkt, meine Schritte schwer – als trüge ich die Bürde einer ganzen Familie.
Ich hob meine Hände, küsste die Hand meines Großvaters und flüsterte:
„Verzeih mir … Großvater.“
Er antwortete nicht.
Seine Hand entzog sich meinen Fingern, als wolle sie nichts mehr mit mir zu tun haben. Dann schrie er – seine Stimme ließ die Wände des Hauses erzittern:
„Kein einziger Zoll in diesem Haus blieb verschont – ihre Soldaten haben alles betreten, ihre Hunde haben alles durchwühlt. Sie haben kein Zuhause geachtet, keine Menschen, keine Frauen. Sie haben deine Mutter erschreckt, deine Schwestern in Angst versetzt. Unsere Kinder haben geweint, ihre Schreie hallten wider von dem, was sie sahen: durchwühlte Koffer, zerstreutes Spielzeug, lautes Hämmern an Türen. Die Blicke der Menschen hafteten an mir – wartend, fordernd, nach Erklärung suchend. Selbst die Nachbarn und Passanten blieben stehen, beobachteten aus der Ferne und fragten sich – was haben wir getan? Und all das … nur deinetwegen!“
Abu Salah nahm erneut sanft Großvaters Hand, führte sie auf meinen Kopf – als wollte er etwas Zerbrochenes wieder ganz machen. Er strich mir über das Gesicht und sagte, mit einem Ton voller Trauer:
„Du musst dich bei deiner Mutter entschuldigen, bei deinem Großvater, bei allen im Haus, Numan … Die Angst, die sie in diesen wenigen Stunden durchlitten haben – keine Zeit der Welt kann das je wieder gutmachen. Dieser Schmerz kommt nicht von dir, aber er liegt auf dir. Sie haben gesehen, was hier geschah – wie sollen sie sich vorstellen, was dir geschehen ist? Du begreifst nicht, was dein Verschwinden in ihren Augen angerichtet hat. Wir hielten uns fern von der Politik und liefen nur unserem täglichen Brot hinterher … was hat dich auf den Pfad des Feuers geführt?“
Ich trat erneut auf meinen Großvater zu – mit gesenktem Blick, als trüge ich eine Schuld, die ich begangen hatte… oder vielleicht auch nicht.
Ich streckte ihm die Hände entgegen und küsste die Seine – eine raue, von den Jahren harter Arbeit gezeichnete Hand.
Mit leiser Stimme sagte ich:
„Vergib mir, Großvater… Ich wusste nicht, dass ich euch verletzt habe. Es war nie meine Absicht. Ich war nicht verloren – aber die Angst, die ich dort durchlebte, war größer als ich.
Jetzt weiß ich, wie sehr ihr gelitten habt… wie schwer ich euch belastet habe. Doch das wollte ich nie…“
Er schwieg. Dann wandte er sich wortlos ab und ging – mein Großvater an seiner Seite – in sein Zimmer zurück.
Mein Blick folgte ihnen. In meiner Brust ein aufgewühltes Zittern.
Ich wollte rufen: „Ich wollte euch niemals wehtun…“
Aber das Schweigen nach einem Schlag…
…gleicht einem schüchternen Gebet, das sich nicht einmal selbst zu hören wagt.
Ich setzte mich auf die Bettkante.
Vor meinem inneren Auge glänzte das Gesicht meines abwesenden Vaters –als würde er mir zuflüstern:
„Wir alle wurden getroffen, mein Sohn…
Aber wir hassen nicht den, den wir lieben.
Wir tadeln ihn – damit er sich nicht selbst verletzt.
Und nicht uns – noch einmal.“
Ich zog den Vorhang zu, legte das Hemd des Gefängnisses ab und trat vor den Spiegel.
Wer war das – der mich da anstarrte?
Er glich mir nicht.
Und doch…
…in seinen Augen lag ein Hauch jenes Numan, der ich einst war.
Da trat meine Großmutter ein –wie jemand, der eine Handvoll Frieden mit sich trägt.
Sie setzte sich neben mich, strich mir sanft übers Gesicht und sagte:
„Ich habe dir das Bad vorbereitet, mein Lieber…
Geh und wasch dich. Lass die Traurigkeit mit dem Wasser von dir abfließen.
Ohne dich war dieses Haus wie ohne Seele.“
„Ich werde ein neues Kapitel aufschlagen…
Für meine Mutter, für dich, für Großvater, für meinen Vater… und für mich selbst.“
Nach dem Bad, als ich mich zur Ruhe begeben wollte, klopfte es leise an der Tür –ein leises, vertrautes Klopfen, das nur einer in diesem Haus so tat.
Mein Onkel trat ein – wir nannten ihn Abu Salah.
Er war der Intellektuelle der Familie, ein früherer Beamter, der einst – zu Zeiten der französischen Besatzung Syriens – Direktor für Post, Telegraf und Telefon gewesen war.
Er hatte Politik erlebt. Und Politiker durchschaut.
Sein Gesicht trug stets den Ausdruck vergangener Tage, überlagert von einem Hauch Stolz auf jene Ära,
voll von Ritualen und Beziehungen, die wir kaum ganz verstanden.
Er blieb am Rand meines Bettes stehen,
sah mich lange an –als blättere er mein Gesicht im Licht der Erinnerung.
Dann sprach er, mit seiner tiefen, langsamen Stimme:
„Ich möchte mit dir sprechen…
über das, was geschehen ist, und über den Grund deiner Verhaftung.
Ich bin heute eigens deinetwegen gekommen,weil ich deinen Vater – meinen großen Bruder – gut kenne.
Ich weiß, wie er denkt. Und wie er handelt.
Ich hatte Angst, dass er dir weh tut –nicht aus Hass oder Groll, um Gottes willen.
Nein, niemals.
Aber er ist ein Mann,der seit jeher seinen Lebensunterhalt sucht –
vom ersten Licht des Morgens bis tief in die Nacht.
So ist er, seit ich ihn in unserem Elternhaus bewusst wahrnahm.“
Ich saß auf der Bettkante und strich die Decke glatt, als müsste ich ein inneres Chaos ordnen. Er hatte auf dem kleinen Stuhl neben meinem Schreibtisch Platz genommen, zog aus der Tasche seiner Jacke eine Schachtel mit selbstgedrehten Zigaretten, drehte sich eine mit geübten Fingern, reichte mir eine zweite – ein stilles Angebot –, zündete seine an, langsam, beinahe theatralisch. Der Rauch entwich ihm in ruhigen Bahnen, als zeichnete er damit eine alte Geschichte in die Luft.
„Hast du gedacht, dass es so weit kommen würde?“
Seine Stimme war ruhig, doch sein Blick wich meinem aus – als wollte er mich nicht gebrochen sehen.
„Was meinst du?“ fragte ich, bemüht, standhaft zu wirken, obwohl die Nächte, die hinter mir lagen, mir noch in den Knochen saßen wie eine vergessene Kälte.
„Deine Leidenschaft für Bücher, für Worte, für Gedichte… all das hat seinen Preis. Und du hast gerade die erste Rate gezahlt.“
Er schwieg, musterte dann mein Gesicht mit einem Blick, der schien, als wolle er das Alter der Angst in meinen Augen messen. Dann sagte er:
„Weißt du… zu unserer Zeit, unter dem Mandat – da wussten wir, wann man reden konnte… und wann man besser schwieg. Unter den Franzosen waren die Gesetze klar, die Soldaten berechenbar, selbst die Gefängnisse hatten Ordnung. Aber heute… heute weißt du bei niemandem mehr, wo er anfängt und wo er aufhört.“
Ich wollte etwas sagen, etwas, das mich oder zumindest meinen Traum verteidigte – den Traum, den ich wie einen Faden durch ein Labyrinth getragen hatte. Aber die Worte blieben mir im Hals stecken. So wie mein Körper mich in jenen Nächten im Stich gelassen hatte – lautlos gegen Schatten kämpfend.
„Also… findest du, dass ich einen Fehler gemacht habe?“
Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern – ein Flehen, nicht nach einer Antwort, sondern nach Vergebung.
Er lächelte – oder ich bildete es mir ein – und sagte leise:
„Nein, mein Junge, du hast keinen Fehler gemacht… Du hast geträumt. Und Träumen ist heute ein Verbrechen. Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich will nur, dass du aufwachst. Dass du erkennst, dass die Welt nicht wie in den Büchern ist – und die Menschen nicht wie die Dichter. Wir leben in einer Zeit, in der man sein Herz verstecken muss… wie eine Waffe.“
Dann stand er auf, so plötzlich wie er gekommen war, blies eine letzte Rauchwolke an die Zimmerdecke und sagte, bevor er ging:
„Schlaf… und versuche zu vergessen. Nicht das Schlagen zerbricht einen – es ist die Erinnerung.“
Ich blieb allein. Der Rauch seiner Zigarette löste sich langsam im Zimmer auf, und ich fragte mich:
War das ein Traum – oder wusste ich einfach nur nicht, wie man sein Herz verbirgt?
Doch bevor die Stille sich festsetzen konnte, kehrte er zurück. Stand im Türrahmen, schaute in das Dunkel, das sich über die Ecken des Zimmers legte, und trat dann mit langsamen Schritten zurück zum Stuhl. Er setzte sich, drückte den Zigarettenstummel in einen alten gläsernen Aschenbecher – wie ein Überbleibsel aus seiner Zeit im Postamt.
„Hör zu, Numan…
Wir sind nicht die Ersten, die ins Gefängnis gebracht wurden, und wir werden nicht die Letzten sein, die träumen.
Aber dieses Land… dieses Leben hier ist kein ruhiges. Es ist eine Abfolge von Stolpersteinen. Nicht weil es keine guten Menschen gibt – sondern weil Hoffnung nur noch dort wächst, wo die Mauern am höchsten sind.“
Ich schaute ihn an – und da war es, als hätte sich ein Fluss in ihm geöffnet, ein Strom, der lange gestaut war.
„Erinnerst du dich, Numan? Damals, als du noch klein warst und mich ständig nach unserer Geschichte gefragt hast? Ich sagte dir oft: Unsere Geschichte ist müde. Müde von einem Volk, das nie stillsteht, das sich nicht vereint, das nicht weiß, wie man sich selbst regiert. Wir schrien nach Unabhängigkeit – und kaum war der Besatzer fort, begannen wir, uns gegenseitig zu bekämpfen. Um Fahnen, um Stühle, um Worte.“
Er schwieg für einen Moment, dann fuhr er mit einer leiseren, aber nicht weniger bitteren Stimme fort:
„Und das soll also das System sein? Das System, wegen dem du verhaftet wurdest?
Nein, Numan. Das ist kein System. Das ist ein Stapel aus Mauern – eine Schicht über der anderen – gebaut aus Angst. Alles darin verlangt Gehorsam, nicht Überzeugung. Sie wollen keine Menschen, die denken. Sie wollen Menschen, die folgen. Gehen. Schweigen. Klatschen.“
Er atmete schwer aus und wandte den Blick zur Seite, als wolle er seine eigenen Worte nicht mehr hören.
„Dieses Land“, sagte er dann langsam, „wird eines Tages ein Museum für Stacheldraht, ein Friedhof für Gedanken. Weißt du, ich hasse mich manchmal selbst dafür, dass ich einmal geglaubt habe, Kultur könne retten. Ich habe mit Büchern gearbeitet, mit Briefen, mit Telefonen – und am Ende? Bin ich bloß ein Zeuge geworden. Ein Zeuge des Aussterbens freier Menschen.“
Ich spürte, wie seine Worte in mir nachhallten – schwer, wie Steine im Wasser.
„Was sollen wir dann tun, Onkel?“, fragte ich, halb verzweifelt, halb trotzig.
Er hob den Zeigefinger, wie einer, der eine Wahrheit zu verkünden hat:
„Wir haben die Wahl. Entweder leben wir richtig, oder wir leben sicher. Beides zusammen – das geht nicht mehr. Und weißt du, was daran am meisten schmerzt?
Wenn du dich entscheidest, richtig zu leben, dann musst du auch bereit sein, den Preis allein zu zahlen. Denn der Rest – sie werden schweigen, dich meiden, dich vielleicht sogar verraten.“
Etwas regte sich in meiner Brust – eine Mischung aus Traurigkeit, Zorn und Ratlosigkeit. Ich sagte:
„Aber wir sind jung! Wir dürfen doch nicht gleich beim ersten Zusammenstoß die Hoffnung verlieren!“
Er sah mich lange an, und in seinem Blick lag etwas, das ich kaum deuten konnte – vielleicht Erschöpfung, vielleicht Mitgefühl.
„Ja, ihr seid jung“, sagte er schließlich mit einer überraschend sanften Stimme.
„Und gerade deshalb habt ihr vielleicht noch Hoffnung. Aber achte auf zwei Dinge: Erstens – vergiss nie, wer hinter dir steht. Deine Familie, deine Leute. Und zweitens – lass nicht zu, dass Hoffnung zur Illusion wird. Lebe nicht, um mit Würde zu sterben. Sondern stirb, wenn es sein muss, damit du mit Würde leben kannst. Es ist ein kleiner Unterschied – aber ein entscheidender.“
Dann stand er auf. Ging zur Tür. Blieb noch einmal stehen. Und sagte:
„In diesem Land gibt es keinen Platz für den, der schreit. Nur für den, der mit seiner Familie heil davonkommt.“
Er ließ die Tür einen Spalt offen – als wolle er mir damit eine Wahl lassen: hinausgehen, oder bleiben.
Ich blieb sitzen, bewegungslos.
Als wäre er zwar gegangen, aber sein Echo hallte noch durch den Raum.
Seine Worte klangen in meinem Kopf nach wie Hammerschläge, die etwas tief in mir weckten – etwas, das vielleicht schon lange geschlafen hatte.
„Lebe nicht, um mit Würde zu sterben…
…sondern stirb, wenn du mit Würde leben musst.“
Dieser Satz – „Lebe nicht, um mit Würde zu sterben, sondern stirb, wenn du mit Würde leben musst.“ – kreiste wie ein Strudel in meinem Kopf, zog mich hinab in einen Abgrund aus Fragen.
War ich naiv gewesen, zu glauben, Würde ließe sich nur mit Aufrichtigkeit erkaufen?
Darf ich ein stilles, bedingtes Leben führen – ohne Aufschrei – und dennoch behaupten, integer zu sein?
Ich blickte auf meine Hände. Sie zitterten noch immer.
Das warme Wasser der Dusche hatte die Kälte nicht vertreiben können, die sich in den langen Nächten der Zelle in mich gefressen hatte.
Aber das, was am meisten zitterte, war mein Herz.
Mein Herz, das Trost im Traum gesucht hatte – und nun in eben diesem Traum eine neue Falle entdeckte.
War ich wirklich frei gewesen?
Oder bloß ein Junge, der sich für die Wahrheit entschieden hatte, um sich selbst zu beweisen, dass er existierte?
Ich hatte geglaubt, die Mauern zwischen mir und der Welt seien äußere, sichtbare Grenzen.
Doch jetzt erkannte ich tiefere Mauern – unsichtbare, innere:
die Mauer der Angst,
die Mauer des Zweifels,
die Mauer aus dem, was mein Onkel heute Nacht gesagt hatte.
Zum ersten Mal wusste ich nicht, welcher Weg der richtige war:
Sollte ich weitergehen auf dem schmalen Seil zwischen Würde und Sicherheit?
Oder sollte ich das Seil durchschneiden – und stürzen?
Aber… wohin?
Sind Träume und Fragen wirklich so kostbar, dass man für sie verhaftet wird?
Oder beginnt das wahre Leben erst, wenn man aufhört zu träumen – und handelt?
Und was ist eigentlich Handeln?
Ein einzelner, klarer Schritt – oder viele, unvollkommene Entscheidungen, die uns alle ein Stück von uns selbst kosten?
Ich schloss die Augen und ließ mich zurücksinken.
Ich hörte die Stimme meines Großvaters aus alten Geschichten…
die müde Stimme meines Vaters beim letzten Besuch…
die meiner Mutter bei jeder Heimkehr…
und meine eigene Stimme dort im Dunkeln, als ich geschworen hatte, mich nie brechen zu lassen.
Heute Nacht schwor ich nichts.
Heute Nacht… lauschte ich nur.
Aber trotz allem in mir – schlief ich nicht ein.

Kapitel Einunddreißig Einladung zur Kontrolle – Abteilung
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Das Fest war vergangen wie ein flüchtiger Sommertraum – leicht, schwebend, kaum greifbar. Es hatte nur aus der Ferne gewunken, ehe es sich still verabschiedete. Kaum ein Monat war seitdem vergangen, als am Sonntag, dem 17. November 1974, ein Polizist an unserer Haustür in Douma auftauchte.
Mein Großvater saß in seinem kleinen Laden, der direkt an sein Zimmer grenzte, und schälte bedächtig einen Granatapfel, der in aller Ruhe gereift war. Der Polizist trat auf ihn zu und überreichte ihm eine versiegelte Karte, auf deren Umschlag mein Name und meine Adresse in dicker, schräger Schrift geschrieben standen. Der Granatapfel blieb halbgeschält in seiner Hand liegen. Mit ruhiger, zurückhaltender Stimme fragte er:
„Was gibt’s denn?“
Der Polizist antwortete knapp, ohne weitere Erklärung, und ging, ohne sich umzudrehen.
Ich öffnete die Karte, während ein leiser, verborgener Schauer durch meinen Puls sickerte. Innen stand in maschineller Schrift:
„Sie haben sich zur Kontrolle bei der Abteilung für politische Sicherheit in Damaskus, Sektion Überwachung, am angegebenen Ort und zur angegebenen Zeit zu melden.“
Ich seufzte, wandte mich zu meinem Großvater um. Er nickte langsam, seine Stimme war brüchig:
„Du musst gehen… Es ist schon vielen so ergangen.“
Seit jenem Tag wurde die Vorladung zu einem monatlichen Gast, der niemals die Adresse verfehlte. Jedes Mal unterbrach ich meine Arbeit oder mein Studium, um pünktlich um acht Uhr morgens am Tor der Abteilung zu stehen. Der Assistent warf einen flüchtigen Blick auf mein Gesicht, registrierte mein Erscheinen – und ließ mich dann schweigend stehen.
In den ersten drei Jahren war es oft so, dass der Arbeitstag um zwei Uhr nachmittags endete, ohne dass mich jemand aufgerufen hätte. Ich klopfte dann selbst an die Tür des ersten Assistenten und fragte:
„Was soll ich tun? Der Tag ist vorbei.“
Seine Antwort bestand stets aus einem einzigen, alles zusammenfassenden Wort:
„Geh nach Hause. Wir rufen dich nächsten Monat.“
Mit der Zeit wurde ich für den ersten Assistenten und einige der Wachen ein vertrautes Gesicht. Manchmal bedeuteten sie mir, in den Wachraum oder einen kleinen Nebenraum zu kommen – besonders an eisigen Wintertagen oder in der flirrenden Hitze von Damaskus.
Die Angst verwandelte sich in Gewohnheit, die Gewohnheit in ein ermüdendes Ritual. Es war, als würde mein Leben im Takt dieser Vorladung schlagen. Wenn sie ausblieb, begann ich, ihre Abwesenheit zu spüren – sie zu vermissen, beinahe.
Dann fragte ich alle in der Familie:
„Hat jemand von euch diesen Monat die Vorladung erhalten?“
Wenn alle verneinten, ging ich selbst zur Abteilung für politische Sicherheit – ohne offizielle Benachrichtigung. Ich hatte Angst, jemand könnte sie angenommen, unterschrieben und es dann schlicht vergessen haben, mir zu sagen.
Im Sommer des Jahres 1977, kurz nach meinem Abitur, erhielt ich eine Vorladung – doch diesmal war sie anders.
Der Oberfeldwebel sah mich nicht mehr mit der üblichen Gleichgültigkeit an. In seinen Augen lag ein kühles Kalkül. Er reichte mir einen kleinen Zettel und sagte mit einer Stimme, die weder freundlich noch drohend klang:
„Drei Namen aus deiner Stadt. Alle sind bekannt dafür, einer oppositionellen Partei anzugehören. Ich will, dass du dich ihnen näherst. Zeig Loyalität. Bitte sie, dich aufzunehmen.“
Ich schwieg. In diesem Raum bedeutete Schweigen keinen Mangel an Mut – es war die einzige Möglichkeit zu überleben. Ich nahm den Zettel, ohne ein Wort zu sagen, und verließ in Eile das Gebäude.
Kaum war ich in Douma angekommen, ging ich direkt zum Büro der Baath-Partei. Mein Antrag, den ich Monate zuvor eingereicht hatte, hing mir noch wie eine offene Frage in der Luft.
Im Büro wühlte der Genosse Abu Ma’rouf lustlos in einem Stapel Papiere. Ich trat näher und fragte:
„Wurde mein Antrag registriert? Ich habe ihn vor Monaten eingereicht.“
Er antwortete mit einem Achselzucken und einem Tonfall, dem jeder Anflug von Bedauern fehlte:
„Der Antrag ist verloren gegangen… Schreib einfach einen neuen.“
Dann fügte er, wie immer, ein trockenes Lachen hinzu:
„Ist doch nicht schlimm… ganz einfach!“
(Genau wie jedes Mal, wenn ich nach meinem Antrag fragte.)
Ich war nie überzeugt von der Partei – nicht von ihren Ideen, nicht von ihren Prinzipien, nicht von ihren Zielen. Aber ich wollte nur eins: eine Parteimitgliedsnummer, die ich dem Oberfeldwebel im politischen Sicherheitsbüro zeigen konnte. Vielleicht würde sie mich von diesem monatlichen Strudel der Vorladungen befreien, der mein Studium störte, meine Ruhe raubte, mein Gleichgewicht zerstörte und mein Verhalten vergiftete.
Jedes Mal ging ich schwer beladen zurück, durchstreifte die Straßen von Douma mit tausend Fragen im Inneren, mit Ängsten, die einander nicht ähnelten.
Die Jahre vergingen. Aber diese eine Vorladung – sie ist nie vergangen.
Auch die Parteimitgliedschaft bekam ich nie. Irgendwann war ich mir sicher: Abu Ma’rouf zerriss meinen Antrag jedes Mal, sobald ich sein Büro verließ. Einmal kehrte ich keine Minute später zurück und sah, wie er gerade ein Blatt Papier in den Papierkorb warf. Auf seinem Schreibtisch lagen alle Dokumente genauso, wie ich sie zurückgelassen hatte – nur eines fehlte: jenes, das ich unterschrieben hatte.

Am Abend, als Numan sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, um sich auszuruhen, blieb Muna noch in dem Arbeitszimmer, ordnete einige Blätter auf dem Tisch. Ihr Vater, Herr Ahmad, stand derweil regungslos am Fenster und sah hinaus. Die Schatten des Sonnenuntergangs dehnten sich über die Wände, als wollte der Tag seine letzten Fragen stellen.
Nach einer langen Stille sagte Herr Ahmad leise, fast als würde er sich selbst erinnern:
„Freiheit, Numan… ist nicht nur das Verlassen von Mauern und Decken. Es ist die Rückkehr der Seele zu dem, der sie liebt.“
Muna sprach leise, fast wie zu sich selbst:
„Als hätte er eine unsichtbare Schwelle überschritten… Numan.“
Ihr Vater drehte sich langsam zu ihr um. Er trat näher, setzte sich an den Tisch gegenüber und strich mit der Handfläche über die hölzerne Stuhlkante. Dann sagte er mit ruhiger Stimme:
„Seine Geschichte… sie braucht Zeit, um wirklich verstanden zu werden. Es ist nicht leicht, für einen jungen Mann in seinem Alter, durch das hindurchzugehen, was er erlebt hat… und dabei aufrecht zu bleiben, mit klarem Blick und ehrlichen Worten.“
Muna schwieg einen Moment. Dann hob sie den Blick zu ihm und fragte nachdenklich:
„Papa… meinst du, er hat Angst vor der Liebe?“
Ein sanftes Lächeln umspielte die Lippen von Herrn Ahmad. Er neigte leicht den Kopf und erwiderte:
„Er fürchtet nicht die Liebe, mein Kind… sondern vielmehr, ihr nicht gerecht zu werden. Dass er ihr zu früh begegnet – bevor er sich selbst versteht, bevor er bereit ist, ehrlich und ganz da zu sein.“
Munas Blick wanderte zu dem leeren Stuhl, auf dem Numan eben noch gesessen hatte. Sie flüsterte:
„Es ist, als wolle er mich lieben… ohne sich selbst oder seiner Familie untreu zu werden.“
Ihr Vater stand langsam auf, trat hinter sie und legte eine Hand sanft auf ihre Schulter:
„Und genau das macht ihn würdig, dich zu lieben. Liebe, Muna… ist nicht bloß Gefühl und Leidenschaft. Sie ist eine Entscheidung. Eine Fähigkeit, Distanz auszuhalten… mit einem klaren Blick.“
Muna nickte langsam. Ihre Stimme war ruhig, getragen von Hoffnung und leiser Entschlossenheit:
„Ich möchte sein sicherer Ort sein… wenn ihn die Angst überkommt. Sein stilles Gesicht, wenn es in ihm stürmt.“
Herr Ahmad lachte leise, mit diesem unverkennbar väterlichen Tonfall:
„Dann liebst du ihn… aufrichtig, klar, mit Herz und Verstand.“
Muna senkte verlegen den Blick, lächelte zart und stand auf, um ein Kissen auf dem Sofa zurechtzurücken.
„Die Liebe wächst in mir“, sagte sie, „jedes Mal, wenn er mir etwas anvertraut… was er lange verborgen hielt. Als würde er ein Fenster in seinem Herzen öffnen… und mich hineinbitten.“
Ihr Vater trat näher, seine Stimme wurde weich:
„Hilf ihm, seinen Weg zu vollenden… Und wenn er ins Straucheln gerät, erinnere ihn daran, dass er niemals allein gegangen ist.“
Das Haus war still in jener Nacht. Fast so, als würde es dem leisen Pochen von etwas Unsichtbarem lauschen.
Im oberen Stock, in Munas Zimmer, lag ein sanftes Licht über dem Raum. Sie saß auf der Bettkante, blätterte in einem Heft, ohne zu lesen. Ihr Blick war zum Fenster gerichtet – aber ihre Augen suchten tiefer. Nicht draußen, sondern in sich selbst.
Plötzlich stand sie auf. Etwas in ihr – ein innerer Ruf – hatte sie erfasst. Sie verließ das Zimmer, stieg die Treppe hinunter zur Bibliothek ihres Vaters und klopfte leise an die Tür. Dann trat sie ein.
Herr Ahmad saß an seinem Schreibtisch, vertieft in seine Unterlagen. Als er sie sah, hob er überrascht die Augenbrauen:
„Muna? Was machst du noch auf?“
Sie trat zögernd näher, als würde jeder Schritt eine Entscheidung abverlangen. Dann sagte sie mit einer Stimme, in der sich Hoffnung und Unsicherheit vermischten:
„Papa… darf ich mit dir sprechen?“
Er legte die Papiere beiseite und deutete auf den Sessel gegenüber.
„Natürlich, mein Kind. Was bedrückt dich?“
Sie setzte sich langsam. Für einen Moment lag ein stilles Nachdenken auf ihrem Gesicht. Dann griff sie nach dem Ärmel ihres Mantels, als suchte sie zwischen den Fasern nach den richtigen Worten.
„Papa… ich… ich liebe ihn.“
Seine Augenbrauen hoben sich leicht – nicht überrascht, eher wie jemand, der längst geahnt hat, was nun ausgesprochen wurde.
Er nickte sanft und fragte leise:
„Numan?“
Auch sie nickte. Ihre Stimme war kaum hörbar.
„Ja… aber ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll. Ich glaube, er spürt es… aber er hat Angst.“
Ahmed seufzte, sein Blick wurde weich, ein warmes Lächeln legte sich auf sein Gesicht.
„Und du? Hast du keine Angst, ihm dein Herz zu zeigen?“
Sie schüttelte langsam den Kopf.
„Nein… ich schäme mich eher. Es ist, als wäre dieses Gefühl größer als ich. Als wäre es ein Geheimnis, das in meiner Brust gewachsen ist, und ich weiß nicht, wie ich es herauslassen soll.“
Er legte seine Hand behutsam auf ihre. Seine Stimme war ruhig und voll väterlicher Wärme:
„Dann sagen wir es ihm gemeinsam… auf eine Weise, die zu dir passt. Lass mich ihn morgen zum Abendessen einladen in ein Restaurant, das du auswählst. Ich werde die Tür öffnen. Du aber… du gehst mit deinem Herzen hindurch.“
Muna sog hörbar die Luft ein, überrascht von der Klarheit dieses Vorschlags. Dann lächelte sie – ein zartes Lächeln, das Liebe und Schüchternheit zugleich verriet.
„Meinst du… er wird es annehmen? Dass ich ihn liebe?“
Ahmed lächelte noch immer, doch nun lag Überzeugung in seiner Stimme:
„Wenn du nicht längst in seinem Herzen wärst, hätte er sich niemals erlaubt, dich mit solch einem Blick zu sehen – so voller Achtung und Güte. Ja, er hat Angst… aber manchmal kommt die Angst vor der Liebe, damit sie sich bewähren kann.“
Muna schwieg einen Moment. Dann flüsterte sie, als spräche sie ein stilles Gebet:
„Vielleicht… ist jetzt der richtige Moment.“
Ihr Vater erwiderte sanft:
„Nicht die Uhr bestimmt den Moment, sondern das Herz. Und das, mein Schatz, ist ehrlicher als jede Zeit.“

Kapitel Zweiunddreißig Spiegel des Geständnisses
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Am Abend des folgenden Tages, nachdem das Abendessen beendet war, schlug Herr Ahmad vor:
„Wir haben überlegt, morgen Abend auswärts zu essen. Wie wäre es, wenn ihr gemeinsam ein Restaurant auswählt und mir Bescheid gebt?“
Mit diesen Worten verließ er den Raum, die Tür leicht geöffnet lassend.
Muna saß Numan gegenüber. Ihre Augen suchten nach Worten, die nicht ausgesprochen, sondern angedeutet werden sollten. Ihre Hände ruhten ineinander verschränkt in ihrem Schoß, als würden sie ein Geheimnis bewahren, das nun bereit war, geteilt zu werden.
Numan saß am Rand seines Stuhls, zögernd, ihr direkt in die Augen zu sehen. Die Luft war still, die Wärme der alten Heizung vermischte sich mit dem sanften Licht der Lampe. Der Raum, einst zum Lernen gedacht, war nun ein Ort des Geständnisses geworden.
Leise fragte Muna:
„Hast du mir nicht einmal gesagt, dass Freiheit das Erste ist, wovon jemand träumt, der sie verloren hat?“
Numan nickte, schwieg jedoch.
Sie lächelte sanft und fügte hinzu:
„Freiheit, Numan, bedeutet nicht nur, Mauern und Dächer zu verlassen. Es ist die Rückkehr der Seele zu denen, die sie lieben.“
Numan seufzte tief, als würde sich etwas in ihm lösen. Er sah sie nun direkt an und sagte:
„Ich dachte, ich sei einmal vor mir selbst geflohen, aber in Wahrheit suchte ich nur nach mir an einem anderen Ort.“
Muna schwieg einen Moment, dann fragte sie mit glänzenden Augen:
„Wo?“
Er antwortete mit einer Stimme, die all das trug, was er bisher nicht ausgesprochen hatte:
„Ich fand mich im warmen Mitgefühl meiner Mutter und hier – in deinem Blick, in den Nuancen deiner Stimme, wenn du über Literatur sprichst, in deiner ehrlichen Sorge um mich, in ihrem stillen Gebet für mich. Und in eurem Schweigen, wenn Worte überflüssig sind.“
Ihre Lippen zitterten leicht, dann flüsterte sie:
„Vertraust du mir?“
Er antwortete:
„Euch beiden vertraue ich. Und mir selbst, wenn ich in eurer Nähe bin.“
In dem Raum, wo der Duft der Bücher sich mit einem neuen Puls verband, saß Muna Numan gegenüber. Ihre Hand strich sanft über die Seiten eines offenen Buches, als bereite sie es darauf vor, Zeuge eines seltenen Gesprächs zu sein.
Stille erfüllte den Raum. Nur Numans Atem war zu hören, zögerlich… als suche er noch nach den richtigen Worten, um zu sagen:
„Ich liebe dich“ – ohne dass ihm die Worte entglitten.
Muna durchbrach das Schweigen mit einer ruhigen Stimme, hinter der ein leiser Funke von Unruhe aufblitzte:
„Glaubst du… dass jemand, der liebt, in einem Land wie diesem wirklich frei sein kann?“
Numan hob den Kopf, überrascht von der Frage. Dann sagte er leise:
„Ich mag deine Frage, Muna. Aber sie tut mehr weh, als man zunächst denkt… Denn die Liebe beginnt hier im Flüstern – und fürchtet sich, sich zu zeigen. So wie wir es mit unseren Meinungen tun. Mit unseren Träumen. Mit dem bloßen Leben.“
Muna schwieg einen Moment, als würde sie seine Worte auf ihre Wirkung prüfen, dann sagte sie:
„Alles in diesem Land braucht eine Genehmigung – selbst die Liebe. Oder einen Trick, oder zumindest Vorsicht. Wir leben in einem Kreis… einem Gefängnis ohne Wände.“
Numan nickte und antwortete mit einem erschöpften Ton in der Stimme:
„Freiheit, Muna, misst sich nicht nur daran, ob jemand das Tor eines Gefängnisses hinter sich lässt… sondern ob er den eigenen Ängsten entkommt. Und ich… trage diesen alten Schatten noch tief in mir.“
Sie sah ihn lange an, bevor sie sagte:
„Aber du bist doch zurückgekehrt – zum Sprechen, zum Schreiben, zu deiner Mutter… Bedeutet das nicht, dass du bereits dabei bist, dich zu befreien?“
„Ich versuche es. Aber der Weg ist lang. Ich komme aus einer Welt, in der Fragen als Bedrohung gelten – und Denken als Ungehorsam. In meiner Kindheit habe ich kaum etwas über Regierung oder Sicherheit gehört… Doch als ich älter wurde, habe ich gemerkt: Wer von ihnen spricht, verschwindet.“
Muna wandte sich zum Fenster:
„Und sie verschwinden noch immer, Numan… mit ihrem Körper, ihrer Stimme oder ihren Träumen. Aber wenn wir nicht heute sagen, was wir fühlen – wann dann?“
Er rückte näher zu ihr. Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch, als würde er in den Tiefen seiner Brust nach längst verschütteten Worten graben:
„Manchmal… glaube ich, dass das Sagen der Wahrheit in einem Land wie unserem… eine Form von Liebe ist.
Weil du dich selbst liebst. Weil du dieses Land liebst. Und weil du nicht zulassen willst, dass all diese Schönheit im Schweigen begraben wird.“
Muna schwieg. In ihrem Schweigen lag ein trauriger Klang. Sie atmete tief durch, bevor sie sagte – mit einem Ton, der von langen Wegen des Schmerzes sprach:
„Und ich liebe dich… weil ich gesehen habe, dass du die Wahrheit liebst – trotz deiner Angst.
Wir beide wissen: Liebe ohne Freiheit… ist keine Liebe. Sie ist nur ein verlorenes Sehnen, das den Weg nicht kennt.“
Er hob die Hand an seine Wange, als wollte er eine Erinnerung berühren – oder einen alten Schwur. Seine Augen glänzten von dem, was vergangen war:
„Hast du gelesen, was ich dir damals schrieb… in Prosa und Versen?“
Muna nickte. In ihren Augen flackerte ein stilles Erinnern. Und er fuhr fort, als würde er in einer Wunde graben, die nie ganz heilte:
„An jenem Tag… hatte ich das Gefühl, dich nicht so verstanden zu haben, wie ich es hätte tun sollen.
Ich konnte dir nicht schreiben: ‘Ich liebe dich.’
Obwohl du in meinem Herzen warst. In meinem Denken. In allem, was ich als mein Dasein bezeichnen konnte.
Ich stand am Rand eines Abgrunds, als du mich verließest… als du vor mir flohst.
Liebe, Muna – ist eine Entscheidung.
Und man darf vor ihr nicht fliehen.
Man darf sie nicht aufgeben.
Egal aus welchen Gründen.
Egal unter welchen Umständen.
Ich will dich nicht tadeln. Und auch nicht beschuldigen…
Vielmehr war ich es, der die Worte nicht fand, als es nötig war.
Ich sprach viel – aber das Eigentliche blieb ungesagt…
An dem Tag, an dem du mir sagtest, du hättest dieses Kleid nur für mich getragen.“
Muna schwieg während Numans ganzem Geständnis.
Nicht ihre Ohren, sondern ihr Herz schien zu hören.
Langsam veränderten sich ihre Gesichtszüge, und in ihren Augen wuchs ein Lichtpunkt, der mit jedem seiner Worte weiter und weiter wurde.
Als er geendet hatte, trat sie leise einen Schritt näher,
setzte sich neben ihn ans andere Ende des Sofas.
Sie sagte zunächst nichts, sondern streckte ihm still ihre Hand entgegen, legte sie sanft auf seine –und erst dann sprach sie, mit einer ruhigen, klaren Stimme, als wolle sie mit ihren Worten heilen, nicht klagen:
„Numan… Ich wollte dich nie bestrafen.
Ich wollte nur, dass du mich siehst – so wie ich dich sehe.
Ich brauchte diese Worte von dir,
genau so wie du sie jetzt ausgesprochen hast.
Aber damals…
an jenem Tag war dein Schweigen wie eine Tür,
die sich mir vor der Nase schloss.“
Sie atmete tief durch.
Dann sprach sie weiter, mit einem Ton,
in dem sich stille Trauer und zarte Sehnsucht vermischten:
„Wir hätten es schaffen können, hätten gemeinsam der Angst getrotzt, hätten uns für die Liebe entschieden –wenn du mir an jenem Tag nur gesagt hättest:
‚Geh nicht.‘ Aber du hast es nicht gesagt.
Und ich… ich war nur ein Mädchen, das mehr Angst vor dem Schweigen hatte als vor einer möglichen Zurückweisung.“
Ihre Stimme wurde leiser,
als rufe sie Erinnerungen aus dem Herzen zurück:
„Weißt du…
Liebe ist für mich kein Versprechen, keine Geschenke, keine parfümierten Briefe.
Liebe ist der Moment, in dem du jemandem sagen kannst:
‚Bei mir brauchst du keine Angst zu haben.
Und ich werde nie etwas tun, womit ich dir Angst mache.‘“
Einen Moment schwieg sie –dann sah sie ihm in die Augen, fast wie in einer leisen Frage:
„Liebst du mich heute… genug,
um mit mir von vorn zu beginnen?“
Numan lehnte sich ein Stück zurück, als müsse er tief in sich hineingreifen
nach einer Antwort,
die vielleicht dem Fremdsein und der Furcht entkommen war.
Er betrachtete ihr Gesicht –dieses Gesicht, das ihm jedes Mal gleich erschien:
still, weit wie die Steppe,
doch voller eines langen, versteckten Durstes.
Schließlich sagte er mit ruhiger, schlichter Stimme,
ohne Pathos, ohne Pose:
„Ja. Ich liebe dich.
Und vielleicht habe ich lange gebraucht,
um es auszusprechen –aber ich habe es nie versäumt, es zu fühlen.“
Er hielt einen Moment inne,
dann fügte er leise hinzu:
„Ich hatte Angst, es dir zu sagen –aus Angst, dass sich etwas in deinen Augen verändert.
Ich wollte dich bewahren, so wie du in meiner Erinnerung warst:
rein, nah, aber doch so fern, wie es mir half, den Schmerz fernzuhalten.“
Er blickte einen Moment zur Decke – als denke er an all das, was verloren gegangen war. Dann sah er wieder zu ihr:
„Jetzt… will ich dich bei mir haben. Ich will nicht, dass die Angst uns noch einmal raubt, was zwischen uns wachsen könnte.
Wenn du mich also fragst: ‚Liebst du mich genug, um anzufangen?‘, dann sage ich: Ja. Lass uns anfangen – auch wenn der Wind uns entgegensteht und der Weg lang ist.“
Es war, als wäre das Zimmer plötzlich zu eng für zwei schlagende Herzen geworden. Muna trat auf ihn zu, legte still ihren Kopf auf seine Schulter. Sie sagte kein Wort – und auch er schwieg –, aber sein Puls verriet ihn.
In diesem Moment war Liebe keine Frage mehr. Keine Antwort.
Sie war nur noch ein stilles Einvernehmen – wie der erste Atemzug eines neuen Anfangs.
Plötzlich klopfte es leise an die Tür.
Numan zuckte zusammen, Munas Kopf hob sich sanft – beide kehrten in einem Atemzug zurück in die Wirklichkeit.
Die Stimme ihres Vaters, des ehrenwerten Herrn Ahmad, klang wie immer würdevoll – doch diesmal lag eine Ahnung in ihr, ein stilles Warten:
„Darf ich hereinkommen?“
Ein kurzer Blick zwischen den beiden, dann antwortete Muna mit gefasster Stimme:
„Komm herein, Vater.“
Die Tür öffnete sich. Herr Ahmad trat ein, seine Augen voller unausgesprochener Gedanken.
Er setzte sich auf den Stuhl neben ihnen, sein Blick wanderte ruhig zwischen ihren Gesichtern hin und her.
„Ich habe einen Teil des Gesprächs gehört“, sagte er, „aber ich bin nicht gekommen, um zu unterbrechen – sondern um zu hören… bis zum letzten Satz.“
Für einen Moment herrschte Schweigen.
Dann wandte sich Numan ihm zu – mit aller Klarheit, die er in sich trug:
„Ich liebe Ihre Tochter, Herr Ahmad. Und ich habe es ihr gesagt – nicht als heimliches Wort, sondern als Entscheidung, die ich bis zum Ende gehen will.“
Herr Ahmad sah ihn lange an. Schließlich sprach er in ruhigem Ton, wie jemand, der gerade aus langem Nachdenken auftaucht:
„Liebe, mein Sohn, ist nicht das, was wir sagen.
Sie zeigt sich, wenn der Moment kommt, in dem wir bereit sein müssen… zu verzichten.“
Dann sah er zu seiner Tochter:
„Und du, Muna – bist du bereit für diesen Moment? Weißt du, welcher Weg vor dir liegt?“
Sie nickte leise:
„Ich weiß es… und ich habe Angst.
Aber ich will diesen Weg mit ihm gehen.“
Der Vater schwieg kurz, dann sagte er:
„Habt ihr darüber nachgedacht, dass dieses Land, in dem wir leben, jenen, die lieben, nicht immer erlaubt, ihren Weg friedlich zu gehen? Dass viele vor euch alles verloren haben – nur weil sie ein Wort aussprachen… oder sich weigerten, sich zu beugen?“
Numans Stimme war ruhig – aber durchdrungen von Klarheit:
„Sollen wir also schweigen? Uns beugen, nur um zu überleben?
Dann sterben wir lieber für ein Wort, das uns entspricht – als zu leben in einem Schweigen, das uns verleugnet.“
Herr Ahmad sah ihn lange an – als erkenne er in ihm das ferne Echo seiner eigenen Jugend.
Dann sprach er mit einer Stimme, die wie ein Vermächtnis klang:
„Geht also diesen Weg…
Aber vergesst nicht:
Liebe ist nur dann rein, wenn sie der Angst standhält.
Und Wahrheit ist nur dann Wahrheit, wenn wir bereit sind, ihren Preis zu zahlen.“

Jeden Monat kam sie wieder – diese stumme Karte.
„Sie haben sich am angegebenen Tag und zur angegebenen Uhrzeit bei der politischen Sicherheit in Damaskus, Abteilung Nachverfolgung, zu melden.“
Kein Absender. Kein Datum. Kein Siegel.
Nur ein brauner Umschlag, als wäre er aus einer Zeit gefallen, die außerhalb jedes Kalenders liegt.
Numan wusste: Der Kreis hatte sich nicht geschlossen.
Die Tür, die sich in jener ersten Verhörnacht geöffnet hatte, blieb offen – Monat für Monat.
Und jedes Mal dieselbe kalte, höfliche Miene, derselbe unausgesprochene Blick, in dem die Frage schwebte:
„Denkst du noch immer?“
Er saß dann wieder in diesem Zimmer, dessen Wände von alter Feuchtigkeit durchdrungen waren –als würde der Angstgeruch aus Rissen kriechen, die seit Jahrzehnten keiner überstrichen hatte.
Ihm gegenüber saß stets derselbe Mann.
Der Ermittler mit dem ruhigen Lächeln.
Er fragte ihn, wie es ihm ginge, wie das Studium laufe, wie sich seine Gedanken entwickelten.
„Hast du in letzter Zeit etwas gelesen, Numan?“
„Ein Buch über das Schweigen.“
„Gut. Schweigen ist eine Kunst… und du weißt ja: Manche Künste können retten.“
Diese Treffen wiederholten sich, wie Übungen zur Anpassung.
Der Mann blätterte durch Numans Akte, als würde er in einem Tagebuch lesen.
Und am Ende jedes Gesprächs kam sie – dieselbe Satzformel,
eine kleine, stets geöffnete Drohkulisse:
„Wir schätzen Denker… doch wir beobachten jene, die zu viel denken.“
Auf dem Heimweg lief Numan dann unter Menschen,
und trug in seiner Brust etwas, das keinen Namen hatte.
Er sah die Leute lächeln, hörte einen alten Radiosender aus einem rostigen Auto,
und fragte sich:
Bekommen all diese Gesichter auch stumme Karten, wie Befehle des Schicksals?
Beim nächsten monatlichen Termin fehlte dem Ermittler das gewohnte Lächeln.
Sein Gesicht wirkte schlaftrunken, schwer –als hätte er die Nacht auf einer belastenden Akte verbracht
und sei mit harten Fragen aufgewacht.
Er blätterte in ein paar Seiten, sah dann auf und stellte die Frage mit einem Ton, der schwerer wog als die Worte selbst:
„Numan… wie genau ist Ihre Verbindung zu einer libanesischen Familie, die in Damaskus lebt?“
Ein kurzer Stillstand – als hätte er sich verhört.
In Numans Gedanken wirbelte es:
Welche Libanesen? Wann? In welchem Zusammenhang?
„Ich meine, laut den Informationen wohnen Sie beinahe in einem Haus im Stadtteil Mezzeh – und es scheint da eine gewisse Verbindung zu einer jungen Libanesin zu geben…
ihr Name ist Muna. Kommt Ihnen das seltsam vor?“
„Muna?… Ja… sie wohnte mit ihrer Familie in dem Haus,
in dem ich nach meiner Einschreibung an der Uni ein Zimmer gemietet habe.“

Sie schwieg. Ihr Blick auf Numan hatte sich verändert – zart und zugleich ängstlich. Als wollte sie ihn stumm fragen:
Wird uns erlaubt sein, das zu bauen, was wir träumen? Oder wird alles zerstört, noch bevor wir beginnen?
Muna streckte ihre Hand aus, berührte seine jedoch nicht. Ihre Finger verharrten in der Nähe, als wollten sie um Erlaubnis bitten, bevor sie näherkamen.
„Numan… Ich will nicht, dass du denkst, ich würde dich kontrollieren oder dir nachspionieren. Ich hatte einfach… Angst um dich.“
Er sah sie lange an, als suchte er nach einer neuen Sprache für die Wahrheit. Dann sagte er leise:
„Und ich… hatte Angst um uns.“
Ihre Augen flackerten leicht. „Wovor?“ fragte sie sanft.
„Davor, wie so viele zu werden, die sich lieben – und sich doch nicht trauen, es laut zu sagen.“
Muna seufzte leise, fast wie das Eingeständnis eines alten Geheimnisses.
„Die Liebe in unserem Land… muss mutig sein. Sonst zerbricht sie auf halbem Weg.“
Nach einem kurzen Schweigen versuchte sie zu lächeln, ohne es ganz zu schaffen.
„Sogar mein Vater, mit all seiner Ruhe und Klugheit… konnte seine Sorge nicht verbergen, als du nach dem Besuch bei der Sicherheitspolizei zu uns kamst.“
Numan lächelte bitter:
„Er ist klüger, als wir denken. Er weiß, wann er schweigen muss und wann er sprechen soll. Vielleicht will er, dass ich mehr rede – um mich besser zu verstehen.“
„Oder… um zu prüfen, ob du es verdienst, in meinem Leben zu bleiben.“
Sie sah ihn lange an, dann flüsterte sie:
„Ich glaube, du verdienst es. Aber du musst mir deine Türen öffnen – so wie du dein Herz für dieses Land geöffnet hast.“
Er atmete tief ein.
„Dann komm… und sieh, wie ich alle Teile von mir in dir versteckt habe. Wie ich über dich geschrieben habe, sogar in Momenten der Angst. Komm, frag mich… und ich werde dir alles sagen.“
Ihre Finger zitterten leicht über dem Tisch – nicht aus Angst, sondern vor Sehnsucht, eine ehrliche Hand zu berühren.
Draußen begann der Regen zu fallen, sanft, und tropfte auf das Fensterglas des Cafés wie aufgeschobene Tränen.

Herr Ahmad saß an seinem Schreibtisch. Vor ihm ein altes Foto aus seiner Zeit in Frankreich: Er stand vor dem Universitätsportal, trug einen schweren Mantel und dunkle Sonnenbrille. In seinen Augen damals:
Trotz und Brillanz. Daneben lag ein schwarzes Ledereinbandheft – darin seine Notizen aus den Jahren nach seiner Rückkehr.
Muna klopfte leise an die Tür, trat aber ein, ohne auf eine Antwort zu warten.
„Guten Abend, Papa.“
Langsam hob er den Kopf und deutete mit der Hand auf den gegenüberliegenden Stuhl.
„Einen guten Abend der Klarheit, Muna… Setz dich.“
Sie setzte sich, legte ihre Hände in den Schoß und sah ihn mit einem leichten Zögern an.
„Wir haben oft über Numan gesprochen… aber ich glaube, es ist an der Zeit, dir etwas zu sagen, was ich bisher nie ausgesprochen habe.“
Herr Ahmad schloss das Notizbuch, legte die Brille zur Seite.
„Du bist frei, meine Tochter. Aber ich hoffe, du bist auch… ehrlich zu dir selbst.“
„Ich liebe ihn, Papa.“
Einen Moment lang blieb er still, als hätte er diesen Satz schon lange erwartet. Dann sagte er:
„Ich weiß.“
Muna zögerte, sprach aber weiter:
„Aber ich sehe in seinen Augen immer noch einen Schatten des Zögerns… eine Spur von Angst. Ich weiß nicht, ob er Angst vor mir hat – oder um mich.“
Ihr Vater lächelte leise.
„Nicht vor dir. Sondern um dein Glück. Er kommt aus einer anderen Welt, in der Gefühle nur auf Papier oder in dunklen Ecken leben durften. Und er hat gelernt, erst zu sprechen, wenn es wirklich nötig ist.“
„Aber er spricht mit mir. Er schreibt mir. Dann schweigt er… und schreibt noch mehr.“
„Weil er dich liebt – auf eine Weise, die nicht zu unserer Zeit passt, Muna.“
Ein Moment der Stille. Dann sagte sie leise:
„Er wurde erneut vom politischen Sicherheitsdienst vorgeladen … dieselben alten Fragen. Aber diesmal … fragten sie nach mir.“
„Und vermutlich auch nach mir“, antwortete Numan ruhig. „Es überrascht mich nicht, Muna. Dieses Land misstraut denen, die denken … und erst recht denen, die lieben.“
Muna blickte ihrem Vater direkt in die Augen. Ihre Stimme war sanft, aber bestimmt:
„Bist du einverstanden mit meiner Beziehung zu ihm?“
Der Vater senkte den Blick. Eine Pause entstand, als würde er tief in seinem Inneren nach der Wahrheit graben. Dann sprach er langsam:
„Wenn du die Wahrheit willst: Es spielt keine Rolle, ob ich einverstanden bin … Solange du in ihm jemanden siehst, der dich achtet und mit dir wächst. Aber ich bitte dich um eines: Verlass ihn nicht in dem Moment, in dem er glaubt, allein zu sein.“
Muna lächelte. Sie legte ihre Hand auf seine:
„Das ist es, was ich hören wollte. Und genau das habe ich vor.“
Das Licht zog sich leise aus den Rändern des Raumes zurück. Zwischen Vater und Tochter öffnete sich ein stiller, tiefer Dialog – einer, der keine weiteren Worte brauchte.

Kapitel Dreiunddreißig Suche nach einer Gebühr
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Numan saß regungslos. Der Vernehmer blätterte langsam durch ein Bündel Papiere. Seine Blicke waren durchdringend, abwartend. Schließlich sprach er:
„Gut, Herr Numan. Sprechen wir offen. Wenn Sie mit Muna reden – worüber geht es da eigentlich? Über die Liebe … oder steckt mehr dahinter?“
Numan zögerte kurz. Dann antwortete er gefasst:
„Wir sprechen über vieles … Bücher, Studium, das Land … und was um uns herum geschieht.“
Der Ermittler zog spöttisch eine Augenbraue hoch:
„Das Land? Welches meinen Sie? Ihres? Frankreich? Oder das derer, die von jenseits des Meeres träumen, hier zu regieren?“
Numan schwieg. Der Ermittler musterte ihn lange, dann:
„Spricht Muna über ihren Vater? Was hält er von uns? Was denkt er über unsere Arbeit?“
Numan atmete ruhig durch. Mit leiser Stimme sagte er:
„Herr Ahmad ist ein gebildeter Mann. Er hat seine Meinung – doch er äußert sich nie gegen sein Land.“
Ein kaltes, emotionsloses Lächeln erschien auf dem Gesicht des Vernehmers:
„Er äußert sich nicht … aber Sie hören zu. Und schreiben. Nicht wahr? Sie notieren seine Gedanken und schicken sie ins Ausland?“
Numan schüttelte den Kopf. Doch der Ermittler ließ ihm keine Zeit:
„Und ihr Cousin im Libanon? Für wen arbeitet er – die Milizen? Oder die Botschaft? Und der Verwandte mit der Druckerei? Drucken Sie dort Flugblätter? Oder doch lieber Liebesromane?“
Numan erwiderte ruhig:
„Ich kenne keine Details über ihre Familie. Und ich habe mit solchen Dingen nichts zu tun.“
Der Ermittler trat näher, langsam, mit kontrollierter Stimme – aber es war Wut darin, verschlossen wie in einem Glaskäfig:
„Aber Sie wissen Bescheid. Sie sprechen. Und Sie merken sich alles. So steht es hier: ‘Ein Mann mit einem scharfen Gedächtnis – was er hört, verwandelt er in Literatur.’ Hervorragend.“
Er zog ein Blatt aus der Akte und las mit künstlich kühler Stimme vor:
„In einem Ihrer Treffen mit der genannten Fräulein haben Sie geäußert, die Wahrheit zu sagen sei in diesem Land inzwischen eine Liebestat, weil Sie nicht wollen, dass Schönheit im Schweigen begraben wird … Sie lieben die Schönheit sehr, nicht wahr?“
Numan antwortete mit leiser Stimme:
„Ich habe das nur ihr gegenüber gesagt … nicht veröffentlicht, keine Erklärung abgegeben.“
Der Ermittler lachte höhnisch:
„Kein Grund zur Veröffentlichung. Ihre bloße Anwesenheit, Ihre Worte, ihre Worte – das ist Veröffentlichung. Das ist die Krankheit.“
Für einen Moment herrschte Stille, dann fragte er mit milderer Stimme:
„Letzte Frage für heute … Wenn Sie sich entscheiden müssten zwischen ihrer Liebe und Ihrer Loyalität zum Land, wofür würden Sie sich entscheiden?“
Numan sah ihn fest an und antwortete bestimmt:
„Wenn Loyalität bedeutet zu lügen, dann tauge ich weder für die Liebe noch für das Land.“
Wieder legte sich Stille über den Raum. Der Ermittler legte die Akte zurück, trommelte mit den Fingern auf den Tisch und sagte mit Nachdruck:
„Für heute sind wir fertig. Aber wir sehen uns bald, nächsten Monat. Vielleicht auch früher. Vergiss das nicht.“
Numan kehrte spät nach Hause zurück, seine Schritte schwer von dem Gehörten, und seine Augen trugen Schatten tiefer Sorge. Er betrat das Zimmer von Muna, die am Fenster saß und schweigend in den Garten blickte.
Muna sah ihn an, ein schwaches Lächeln huschte über ihre Lippen. Dann fragte sie zögernd:
„Wie war die Vernehmung?“
Numan atmete tief ein, setzte sich neben sie, griff nach ihrer Hand und hielt sie sanft zwischen seinen, seine Stimme weich, aber schmerzhaft:
„Wie erwartet … Fragen über dich, über deine Familie, über alles … über das Land, unsere Gespräche, über … alle Details.“
Munas Lippen zitterten leicht, sie legte die Hand auf ihr Herz und sagte:
„Hattest du Angst? Haben sie etwas über uns gesagt?“
Numan lächelte schwach und antwortete:
„Angst … ja, die gibt es. Aber die Angst, uns zu verlieren, ist größer. Sie misstrauen allem, sogar der Wahrheit selbst. Aber wir dürfen das nicht.“
Muna sah ihm in die Augen, Tränen glitzerten darin, und flüsterte:
„Ich mache mir Sorgen um dich … und um uns. Was, wenn ich dich nicht mehr beschützen kann?“
Numan strich ihr sanft eine Träne von der Wange und sagte:
„Was, wenn ich nicht mehr in der Lage bin, dich zu schützen?“
Muna seufzte tief und sagte entschlossen:
„Versprich mir, mich nicht zu verlassen … egal, was passiert.“
Numan drückte ihre Hand fest und sagte:
„Ich weiß nicht mehr, ob ich dir das versprechen kann … ich weiß nur, dass ich bezweifle, dass ich – wir – allem gemeinsam gewachsen sind.“
Eine Stille legte sich über den Raum, doch zwischen den Worten lag das Gefühl einer tiefen Einsamkeit, im Angesicht einer Welt, die die Liebe mit einem hohen Preis fordert.
Die Verhöre wurden mit jeder Begegnung intensiver, wie eine Welle, die sich nie beruhigte – sie wuchs in ihrer Wucht, nahm an Schärfe zu. Beim letzten Treffen begann der Ermittler das Gespräch mit einem misstrauischen Blick:
„Numan, erzähl mir von Munas Vater… Was hat er in Beirut gearbeitet? Und was hat sich verändert, als er nach Damaskus zog? Warum?“
Numan atmete tief durch, versuchte ruhig zu bleiben und antwortete:
„Ihr Vater war Ingenieur in einem Familienunternehmen. Er ist aus rein familiären Gründen nach Damaskus umgezogen.“
Der Ermittler schrieb eifrig in sein Notizbuch, dann fragte er weiter:
„Wie sah sein monatliches Einkommen aus? Hat sich sein Lebensstandard verändert?“
Numan schüttelte langsam den Kopf:
„Es gab eine kleine Veränderung, aber nichts Dramatisches.“
Dann kam die nächste Frage, diesmal in einem schärferen Tonfall:
„Weißt du, dass der Mietvertrag auf deinen Namen läuft? Dass große Summen gezahlt und empfangen wurden – ohne nachvollziehbaren Grund? Woher kam dieses Geld?“
Numans Herz begann schneller zu schlagen, seine Stimme zitterte leicht:
„Ich… ich habe dieses Geld nicht genutzt. Ich kenne die genaue Herkunft nicht. Es hängt wohl mit Munas Vater zusammen, er arbeitet im Bauwesen, im Bereich der Auftragsvergabe.“
Der Ermittler lehnte sich zurück, sprach nun leise, fast wie ein verborgenes Urteil:
„Diese Vorwürfe sind nicht ohne. Sie könnten dir, deiner Familie – und auch Munas Familie – ernsthaften Schaden zufügen.“
Während dieser Worte dachte Numan an Munas Vater – den besonnenen Mann, der so viel trug in seinem Leben.
Am selben Abend rief Numan ihn an. Es war ein stilles Treffen, bei schwachem Licht, begleitet vom Flüstern der Sorge vor dem, was noch kommen könnte.
Munas Vater sprach mit fester Stimme:
„Das hier ist ernst, Numan. Aber Geduld und Klugheit sind jetzt unsere Waffen. Lass dein Herz nicht gegen dich arbeiten. Und sag ihnen nicht mehr, als nötig ist.“
Numan erwiderte:
„Ich spüre, wie sich die Schlinge langsam zuzieht. Aber ich werde nicht aufgeben.“
Der Vater nickte, seine Stimme ruhig und bestimmend:
„Wir müssen uns selbst und unsere Familien schützen. Kein Raum für Impulsivität. Und rede nur mit denen, die verstehen.“
Numan lächelte müde. Er wusste, dass der Weg zur Wahrheit – und zur Liebe – nicht leicht sein würde. Aber er war bereit, ihn mit allem, was in ihm war, zu gehen.

Kapitel Vierunddreißig Flucht
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An einem dieser stillen Abende saßen Numan und Munas Vater gemeinsam in einem abgedunkelten Raum. Das matte Licht der Lampe vermischte sich mit einem schweren Schatten, der sich wie ein Tuch über Möbel und Gedanken legte.
Ahmad atmete tief durch, ehe er das Wort ergriff:
„Mein Sohn, um mich musst du dir keine Sorgen machen. Aber um dich … um dich beginne ich mich mehr zu fürchten als je zuvor. Diese Leute – man weiß nie, wo sie graben oder wonach sie wirklich suchen.“
Numan sah ihn fragend an, seine Stimme leise, doch bestimmt:
„Glaubst du, das, was sie behaupten, reicht aus, um dich ins Visier zu nehmen?“
Ahmad nickte, sein Blick ernst und klar:
„Ohne Zweifel. Jede Bewegung, jede Verbindung wird beobachtet. Besonders wenn es um Geld geht – Überweisungen, Ausgaben … alles wird registriert.“
„Und was ist mit dem Vertrag, der auf meinen Namen läuft?“ fragte Numan, die Sorge in seinem Gesicht kaum verbergend.
„Ein Vertrag schützt nicht vor Verdacht. Er ist kein Schild. Wir müssen vorsichtig sein. Jede Unterschrift, jedes Blatt Papier könnte sich eines Tages gegen uns wenden.“
Numan nickte langsam, dann sprach er mit neuer Entschlossenheit:
„Dann müssen wir vorbereitet sein. Auf alles. Und in Kontakt bleiben – immer. Angst und Misstrauen dürfen uns nicht steuern.“
Ein Lächeln huschte über Ahmads Gesicht. Er streckte die Hand aus, eine Geste der stillen Übereinkunft, jenseits aller Formulierungen:
„Unser Abkommen steht, Numan. Wir halten zusammen. Was auch kommt.“
Mit diesen Worten wich etwas von der Schwere in Numans Brust. Die Schatten blieben – aber sie bewegten sich, wurden durchlässiger, als hätte die Hoffnung einen Spalt geöffnet im Mauerwerk des Ungewissen.

Numan saß ruhig auf dem harten Stuhl im Verhörzimmer. Die Luft war schwer – nicht nur vom Rauch, der in der Ecke stand, sondern von der Präsenz des Mannes ihm gegenüber. Der Ermittler betrachtete ihn mit einem Blick, der zwischen kühler Überlegenheit und lauernder Neugier schwankte. In seinen Bewegungen lag keine Eile. Mit bedächtiger Langsamkeit blätterte er durch die Akten, bevor er schließlich ohne aufzublicken sprach – leise, aber mit einem Druck, der den Raum füllte:
„Herr Numan, wir verfügen nun über neue Informationen. Über die beruflichen Aktivitäten von Munas Vater. Über die Gründe seines Wechsels von Beirut nach Damaskus. Und auch über sein monatliches Einkommen. Können Sie uns erklären, wie genau es zu dem Vertrag kam, der auf Ihren Namen läuft? Und woher das viele Geld stammt?“
Numan atmete ruhig ein und aus. Die Ruhe war diszipliniert, nicht natürlich. Er hielt seinem Gegenüber stand und antwortete mit ruhiger Stimme:
„Der Vertrag diente allein dazu, der Familie von Herrn Ahmad eine Wohnung zu sichern. Die Mittel dafür stammen von seinem privaten Konto, unterstützt durch einen nahen Verwandten.“
Ein schmaler, höhnischer Zug erschien auf den Lippen des Ermittlers. Er lehnte sich zurück, als wolle er Raum schaffen für das nächste Manöver:
„Und wie steht es um Ihre Beziehung zur Familie von Muna? Welche politischen Tendenzen vertreten deren Angehörige, die noch in Libanon leben?“
Numan schwieg für einen Moment. Dann hob er den Blick und sagte bestimmt:
„Es besteht kein familiäres Verhältnis. Und was politische Einstellungen angeht – davon weiß ich nichts. Ich halte mich aus ihren Angelegenheiten heraus.“
Die Miene des Ermittlers verfinsterte sich leicht. Seine Stimme wurde schärfer:
„Das sind keine Nebensächlichkeiten, Herr Numan. Jedes Wort, das Sie verschweigen, kann gegen Sie sprechen. Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter.“
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Im Wohnzimmer von Muna saßen ihr Vater und Numan am runden Holztisch. Das Licht war gedämpft, als hätte auch die Lampe den Ernst der Stunde gespürt. Eine dichte Stille lag über dem Raum, nur unterbrochen vom leisen Ticken der Wanduhr. Die Atmosphäre war gespannt – wie der Moment vor einem aufziehenden Sturm.
Munas Vater durchbrach schließlich das Schweigen. Seine Stimme war ruhig, aber fest:
„Wir müssen vorbereitet sein. Die Fragen nehmen zu, die Gefahr wächst. Es ist entscheidend, dass wir einander schützen.“
Muna wandte sich Numan zu. Ihr Blick war warm, fast leuchtend in der Schwere des Abends:
„Wir stehen zu dir, Numan. Hab keine Angst. Wir werden eine Familie – und eine Familie hält zusammen.“
Numan nickte langsam. Er holte tief Luft, als wollte er all die Unsicherheit mit einem Atemzug loswerden. Dann sagte er:
„Ich werde vorsichtig sein. Aber wir werden uns nicht von der Angst leiten lassen. Die Wahrheit ist unser Weg – und wir gehen ihn, komme, was wolle.“
Ein stilles Einvernehmen legte sich über ihre Gesichter. Kein lautes Versprechen, kein großes Pathos – nur der klare Ausdruck eines inneren Entschlusses. Als hätten sie sich, ohne ein weiteres Wort, auf eine gemeinsame Linie eingeschworen. Bereit für das, was vor ihnen lag.
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Kühles Licht fiel auf die klaren Linien des Familienhauses, als wolle es jedes Detail schonungslos offenlegen. Inmitten dieser fast klinischen Helligkeit stand der Ermittler – das Gesicht ernst, die Stirn leicht gefurcht. Seine Augen tasteten alles ab, besonders das, was Ahmed, Munas Vater, besaß: ein Vermögen, das nun, ob gewollt oder nicht, das Interesse der Sicherheitsdienste geweckt hatte.
An einem Abend, als der Wind leise gegen die Fensterläden drückte, kam der Ermittler zurück. Diesmal trug er ein Lächeln, das mehr fror als wärmte, und in der Hand einen Kugelschreiber, in dessen Innerem sich ein getarnter Aufnahmeapparat verbarg. Draußen, im schwach beleuchteten Garten, nahm er Numan beiseite und sprach mit einer Stimme, die glatt war, fast höflich – und doch voller unterschwelliger Drohung:
„Numan… im Interesse deiner Sicherheit – und um dich vor Missverständnissen oder schwerwiegenden Geheimdienstvorwürfen zu bewahren – gebe ich dir dieses Gerät. Bleib in der Nähe von Herrn Ahmed und Muna. Zeichne auf, was gesprochen wird. Du hilfst uns – und schützt damit dein Land.“
Ein Moment des Schweigens. Dann hob Numan den Kopf.
„Ist das das Vertrauen des Staates? Dass die Häuser der Menschen zu Überwachungsstationen werden?“
Der Ermittler lächelte unbewegt.
„Das ist kein Wunsch, Numan. Es ist eine Notwendigkeit. Lass dich nicht von Angst lähmen. Dein Pflichtgefühl gegenüber dem Vaterland sollte dir keine Sorge bereiten.“
Stumm kehrte Numan ins Haus zurück, ließ sich auf den Stuhl sinken. In seinen Händen das kleine Gerät – schwer wie Schuld. Er wusste nun: Das Spiel war größer, tiefer, gefährlicher. Eine dichte Schicht aus Kontrolle und Furcht überzog das Haus, das Geld, die Liebe – sogar die Freiheit – alles stand nun unter stiller Beobachtung.
Noch in derselben Nacht ging er in den Garten, grub mit bloßen Händen ein Loch unter dem Zitronenbaum, legte das Gerät hinein, bedeckte es mit Erde – und kehrte wortlos zurück. Dann erzählte er, was geschehen war.
Muna sah ihn an. In ihren Augen mischten sich Unruhe und Trauer.
„Glaubst du, das ändert etwas?“ flüsterte sie. „Ist es Schutz – oder der Anfang eines bitteren Verrats?“
Ahmeds Gesicht blieb ernst. Seine Stimme war fest, doch vorsichtig:
„Das ist unsere Wirklichkeit, Muna. Wir können nicht länger so tun, als ginge uns das alles nichts an. Mein Geld ist längst ins Visier geraten. Und dieses Gerät – ein Werkzeug ihrer Kontrolle. Oder zumindest ihr Versuch.“
Numan atmete langsam, als müsse er die Worte erst innerlich sortieren.
„Aber… können unsere Gespräche wirklich überwacht, unsere Stimmen gespeichert werden? Ist das nicht das Ende jeder Freiheit?“
Ahmed lächelte müde, schmerzhaft.
„Doch, Numan. Es ist Erstickung. Aber ein Erstickungstod, den wir gemeinsam teilen. Und manchmal – müssen wir das Spiel mitspielen, um am Leben zu bleiben.“
Muna legte sanft die Hand auf Numans Schulter. Ihre Stimme war leise, aber klar:
„Wir müssen stärker sein als die Angst. Zusammenstehen – nicht weichen vor jenen, die uns aus dem Schatten beobachten.“
Er sah sie an. Seine Augen voller Entschlossenheit.
„Ich werde tun, was richtig ist. Nicht das, was sie wollen – auch wenn es gefährlich wird.“
Die Nacht war beinahe vorüber, als Numan sich wieder Ahmed zuwandte. Seine Worte kamen wie aus der Tiefe, getragen von Sorge:
„Morgen früh… muss das Haus verkauft, das Geschäft aufgelöst werden. Du musst mit Muna nach Beirut zurück. Diese Stadt – sie ist nicht mehr sicher für euch.“
Schweigen. Muna saß am Fenster, Tränen liefen über ihre Wangen, als lausche sie einem Laut, den nur sie hören konnte. Dann wandte sie sich langsam ihrem Vater zu – schweigend, wartend.
Ahmed verschränkte die Hände, ließ den Kopf sinken – und hob ihn schließlich wieder, mit dem Blick eines Mannes, der mehr wusste, als er sagen konnte:
„Glaubst du, Beirut bietet Schutz? Die, die hier über Sicherheit entscheiden, tun es auch dort. Grenzen trennen nicht mehr zwischen Messer und Hals. Sie sind geworden – Brücken des Misstrauens, der Überwachung, der erzwungenen Loyalität.“
Muna sprach nun mit zitternder Stimme:
„Heißt das, wir haben keinen Zufluchtsort mehr? Kein Zuhause? Kein Land?“
Ihr Vater antwortete, fast wie im Selbstgespräch:
„Es heißt… wir müssen größer denken. Nicht nur an uns, sondern an die Wahrheit. Wir müssen entkommen – nicht aus Feigheit, sondern um zu überleben. Nur die Flucht bleibt klug, verstehbar, durchführbar.“
Numan trat an den Tisch. Seine Hand ruhte auf verstreuten Papieren – Unterlagen zum Haus, zum Geschäft. Dann sagte er:
„Aber die Zeit arbeitet gegen uns. Jeden Tag kommen sie näher. Der Geheimdienst – er wollte, dass ich euch abhöre, euch verrate… Und ich…“
Ein blasses Morgenlicht legte sich über Damaskus, als ob die Stadt selbst den Atem anhielt. Im Viertel Mazzé Villen herrschte eine seltsame Stille. Das Haus der Familie schien sich in sich selbst zurückzuziehen, als wolle es seine Geschichte verbergen.
Muna bewegte sich leise durch die Räume, sammelte Bücher, Notizen und Erinnerungen. Zwischen den Seiten fand sie alte Briefe, Zeichnungen ihrer Mutter – Fragmente eines Lebens, das sie bald hinter sich lassen würde.
Herr Ahmad sortierte Dokumente, faltete sie sorgfältig, als wolle er ihre Existenz auslöschen. Das Telefon schwieg, doch seine Präsenz war spürbar – wie ein stummer Zeuge.
Numan hatte den Immobilienmakler kontaktiert, der prompt erschien. Sie beschlossen, beide Wohnungen zu verkaufen, um die Abreise zu erleichtern. Der Makler brachte einen Interessenten mit, der schon lange nach genau solchen Objekten gesucht hatte. Der Verkauf verlief reibungslos, die Verträge wurden unterzeichnet, und die Käufer kehrten später mit dem vereinbarten Betrag in ausländischer Währung zurück.
Herr Ahmad bot Numan einen Teil des Geldes an, doch dieser lehnte entschieden ab. Er wollte keine Gegenleistung, nur die Gewissheit, dass sie sicher waren.
Am Tag der Abreise standen sie am Eingang. Numan sagte zu Muna:
„Wenn du kurz vor dem Abflug bist, schick mir eine Nachricht. Zwei Worte genügen: ‚Wir sind sicher.‘“
Sie nickte, Tränen in den Augen, und reichte ihm die Hand. Er erwiderte den Händedruck, ein stiller Abschied.
Herr Ahmad trat hinzu, umarmte Numan und sagte:
„Du warst mutig und großzügig. Pass auf dich auf. Dieses Land braucht Menschen wie dich.“
„Ich werde vorsichtig sein“, antwortete Numan. „Und ich werde schreiben – für die, die zuhören wollen.“
Als sie gegangen waren, blieb Numan allein zurück. Er betrachtete das Haus, den Garten, die Orangenbäume. Ein leiser Wind bewegte die Blätter.
„Manche Abschiede“, dachte er, „werden nicht ausgesprochen. Sie werden gelebt.“
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Eine Woche später wurde Numan erneut vorgeladen. Der Weg zum Verhör war ihm vertraut, doch diesmal schien alles fremd. Die Straßen wirkten leerer, die Gebäude kälter.
Im Verhörraum saß der Ermittler, elegant gekleidet, mit einem dünnen Lächeln.
„Sie sind also fort“, begann er. „Das vereinfacht die Dinge, nicht wahr?“
Numan schwieg.
„Aber was, wenn ich Ihnen sage, dass sie nicht weit gekommen sind? Dass sie Spuren hinterlassen haben?“
Er legte ein Foto auf den Tisch – eine kleine Ledertasche.
„Gefunden nahe der Grenze. Mit einer Speicherkarte. Inhalte? Noch unklar.“
Numan betrachtete das Bild, blieb ruhig.
„Und dann ist da noch dieses Aufnahmegerät“, fuhr der Ermittler fort. „Haben Sie es benutzt? Etwas aufgenommen?“
„Nein“, antwortete Numan. „Es liegt im Garten des Hauses, vergraben neben dem alten Feigenbaum.“
Der Ermittler lächelte.
„Wir schätzen Ehrlichkeit. Aber Wahrheit braucht manchmal Zeit.“
Er lehnte sich zurück.
„Übrigens, der Herr aus Beirut ist nicht zurückgekehrt. Er und seine Tochter sind jetzt in Australien. Aber Sie werden wieder vorgeladen. Das Vaterland vergisst seine Freunde nicht.“

Kapitel Fünfunddreißig Nie wieder zurückkehren
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Nach langen Stunden verließ Numan den Verhörraum – diesmal hatte sich dieser Raum geöffnet wie ein Buch, das nichts mehr zu verbergen hatte.
„Er trug keinen Zweifel im Herzen, nicht in seinen Augen, an denen, die er liebte. Doch ihr Weggang hinterließ in seiner Brust einen Knoten, der sich nicht lösen wollte.“
Aus seiner Jackentasche zog er einen Zettel hervor. Er war vergilbt vom Warten, weich gefaltet, geschrieben mit einer Handschrift, die er nicht vergessen konnte – die ihre:

Hab keine Angst.
Mir geht es gut,
solange du in meinem Herzen schlägst,
solange dein Gedanke meine Seele erhellt.

Schreib diesen Roman nicht…
den Roman des Traums,

nicht, solange er nur aus ihr besteht und nicht aus euch.

Zwei Wochen nach ihrer Abreise wachte Numan früh auf, trotz des unruhigen Schlafs. Es war nicht Tugend, die ihn aus dem Bett trieb – es war die Leere, die ihn vor dem Wecker weckte und ihn dann ohne Grund liegen ließ.
Er öffnete das Fenster. Eine kühle, ländliche Brise strich durch das Zimmer, warm im Kern, aber mit einem Hauch von Abwesenheit. Sie schien ihm an diesem Morgen zuflüstern zu wollen:
„Sie ist dort entlang gegangen… und sie wird nicht zurückkehren.“
Mit seinen Büchern unter dem Arm ging er zur Hochschule, als trüge er die Reste einer verlorenen Schlacht.
Im langen Korridor erkannte er die gewohnten Gesichter, hastige Lacher, belanglose Gespräche – all das bedrückte ihn mehr als das Alleinsein.
Er setzte sich auf seinen Platz. Der Stuhl neben ihm – ihr Stuhl – blieb leer, so als würde er ihn direkt ansehen und flüstern:
„Erzähl mir etwas… so wie sie es tat.“
Ein Kommilitone beugte sich leise zu ihm, zeigte auf ein Blatt zwischen seinen Händen:
„Was meinst du? Werden wir auch dieses Jahr mit Auszeichnung bestehen? Oder aufgeben bis zum nächsten?“
Numan nickte wortlos. Nicht, weil er zustimmte – er hörte gar nicht hin. Seine Augen lasen woanders.
Dort, wo Grünflächen sich aneinander schmiegten, sah er ihre Schritte. Und im gebrochenen Klang der Stimmen hörte er ein Echo – eines, das auch das letzte Verhör nicht hatte brechen können.
Nach der Vorlesung ging er in die Bibliothek. In der Ecke, die Muna immer bevorzugt hatte, ließ er sich nieder.
Er griff nach Die Pest von Camus, schlug es irgendwo in der Mitte auf.
Es war, als würden die Buchstaben ihn erkennen. Am Rand einer Seite, mit vertrauter, feiner Schrift stand:
„Manchmal bekämpft der Mensch die Krankheit mit Worten. Und manchmal stirbt er an ihnen.“
Lange blieb sein Blick an diesem Satz hängen. Dann schloss er das Buch langsam und verbarg sein Gesicht in seinen Händen.
„Du hast überall Tinte hinterlassen, Muna… Selbst in Büchern, die ich nie zu Ende lesen werde.“
Am Abend kehrte er nach Hause zurück. Die Lichter waren aus – so wie er sie verlassen hatte.
Er setzte sich an den Tisch, sah zu jener Ecke, wo sie einst saß, Notizen machte, lachte, wenn er ihre Handschrift kommentierte.
Aus der Schreibtischschublade nahm er einen kleinen Umschlag. Zwei Bilder lagen darin:
Eines zeigte sie gemeinsam im Garten der Hochschule, das andere – ein Zettel mit ihrer Schrift:
„Es wird ein Tag kommen… da ist Liebe kein Verbrechen mehr.
Ach, hätten wir uns nur in einem anderen Land getroffen.“
Dann löschte er das Licht.
Und die Nacht wachte über seinen Schmerz, zählte den Atem seines Dorfes – in Erwartung eines neuen Aufrufs.

Kapitel Sechsunddreißig Ein armer Diener Gottes
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An einem Nachmittag des Jahres 1979, etwa zwei Monate nach der Abreise von Muna und ihrem Vater in einen fernen Kontinent, kehrte Numan erschöpft von einem langen Studientag an der Universität zurück. Er trat in den kleinen Friseurladen seines Vaters, der gerade – wie seit Jahren – einem Kunden die Haare schnitt. Numan blieb einen Moment in der Tür stehen und sagte ruhig:
“Brauchst du etwas, Vater? Ich gehe nach Hause.”
Der Vater hob den Kopf über dem Kundenhaar, seine Augen glänzten mit einem Anflug von Zufriedenheit:
“Setz dich einen Moment… Keine Eile.”
Numan gehorchte und setzte sich auf einen der alten Holzstühle nahe dem Spiegel. In der Stimme seines Vaters lag eine leise Bitte, als wolle er ihn nicht bloß wegen einer kleinen Besorgung bitten zu bleiben, sondern aus einem anderen, tiefer liegenden Grund. Der Vater fuhr fort, mit dem Kunden zu plaudern, und Numan horchte auf – denn etwas irritierte ihn: Der Vater nannte den Kunden “Genosse”.
Er hob überrascht die Augenbrauen. Das war so gar nicht die Art seines Vaters, der sich stets von jeder parteipolitischen Rhetorik ferngehalten hatte. Neugierig lauschte Numan weiter, ohne einzugreifen.
Als der Haarschnitt beendet war, klopfte der Vater dem Kunden leicht auf die Schulter:
“Fertig.”
Der Mann lächelte, trat neben Numan und ließ sich auf dem freien Stuhl nieder. Er musterte ihn mit ruhigem Blick und sagte mit einer Stimme, die Vertrauen ausstrahlte:
“Erzähl mir… deine Geschichte.”
Numan war verblüfft von dieser plötzlichen Frage. Er zögerte kurz, dann fragte er höflich:
“Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?”
Ein geheimnisvolles Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes:
“Ein armer Diener Gottes… Erzähl mir alles, hab keine Angst.”
Ein kurzer Blickwechsel mit dem Vater – dann begann Numan zu sprechen, als hätte sich auf einmal eine innere Blockade gelöst. Er erzählte vom 6. Oktober 1974, von den Tagen der Verhaftung, vom absurden Prozess, den ständigen Vorladungen durch die politische Sicherheit, von seinen Behördengängen zur Parteizentrale, von den endlosen Ausflüchten des „Genossen Abu Ma’ruf“ – bis zum heutigen Tag.
Der Mann hörte aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen, sein Gesicht zeigte weder Ungeduld noch Langeweile. Nur gelegentliches Nicken, als würde er still Notizen machen.
Als Numan geendet hatte, fragte er ruhig:
“Kennst du das Hauptquartier der Baath-Partei in der Mahdi-Straße, gleich hinter dem Generalstab?”
Numan überlegte:
“Ich glaube ja… Wenn nicht, finde ich es heraus.”
“Morgen früh, Punkt acht. Ich warte dort auf dich.”
Am nächsten Morgen stand Numan bereits eine Viertelstunde vor acht am Tor. Ein einfacher Wächter hielt ihn auf:
“Wen suchen Sie?”
Etwas verlegen antwortete Numan:
“Ich warte auf den Genossen…”
Er stockte – er hatte am Vortag versäumt, den Namen zu erfragen! Also fügte er schnell hinzu:
“Er kommt gleich. Wir haben um acht hier verabredet.”
Pünktlich zur vollen Stunde sah er ihn aus der Ferne herbeieilen. Der Mann winkte dem Wächter, der Numan nun einließ. Gemeinsam durchschritten sie einen verzierten Korridor bis zu einer prächtigen Tür, kunstvoll geschnitzt, bis zur Decke reichend.
Ein Klopfen – eine Stimme von innen:
“Herein.”
Der Mann führte Numan hinein. Ein elegantes Büro, der Duft alten Holzes, Bücherregale an den Wänden. Am Schreibtisch ein Mann Ende fünfzig, der aufstand, Numan die Hand reichte und ihn herzlich bat, Platz zu nehmen. Der Begleiter sagte:
“Das ist unser lieber Numan. Ich hoffe, du wirst dein Wort halten und ihm helfen.”
Der ältere Mann nickte, trat an seinen Schreibtisch, zog ein Formular hervor – exakt jenes, das Numan schon unzählige Male erfolglos ausgefüllt hatte.
“Weißt du, wie man das ausfüllt?”
Numan lächelte leicht ironisch:
“Ich hab’s oft genug getan.”
“Dann tu es wieder – und unterschreib.”
Numan tat, wie geheißen. Das Formular wurde registriert, mit Datum versehen, eine neue Sitzung terminiert. Als sein Begleiter ging, bestellte der Beamte zwei Gläser Tee. Dann wandte er sich Numan zu:
“Wie magst du deinen Tee?”
“Mit viel Zucker, bitte”, erwiderte Numan lächelnd.
Bei Tee und leiser Konversation fragte ihn der Mann nach seinen Interessen, seinen Büchern – und in der Wärme seiner Stimme lag etwas, das Numan seit Jahren vermisst hatte.
Kurz darauf kehrte sein Begleiter zurück, übergab das quittierte Formular. Der Beamte las es, sah Numan an:
“Morgen gehst du zur Parteizentrale und erkundigst dich nach deinem Antrag.”
Er verabschiedete sich mit einer Herzlichkeit, die Numan tief berührte.

Am selben Abend, als Numan erschöpft im Bett lag, riss ihn plötzlich die Stimme seines Großvaters aus dem Schlaf:
“Numan! Jemand ist an der Tür – fragt nach dir.”
“Wer ist es, Großvater?”
Die Stimme kam ruhig, aber überrascht:
“Er sagte… er heiße Abu Ma’ruf!”

Kapitel Siebenunddreißig Schlusskapitel Der Traum
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Der Traum, mit dem Numan aus den Prüfungen zurückkehrte, glich nicht dem, der ihn jeden Morgen weckte.
Zwischen einem stillen Versprechen an seine Familie und einem leisen Eingeständnis in der Tiefe der Nacht verzweigten sich die Wege, und die Landkarten verloren ihre Sprache.
Der Weg zur Architektur wurde ihm zu eng – er bog ab zum Design, verlor sich schließlich in den Spiralen des eigenen Selbst, bis er sich selbst in den Worten wiederfand.
Es war keine Flucht vor dem Scheitern, sondern vor einer verborgenen Angst, vor einer Wunde ohne Namen.
Der Traum hatte sich gewandelt: vom Bau von Mauern zum Ringen um Bedeutung.
Jede Ecke, jede Berührung wurde zu einem lesbaren Text, jeder Stoff trug verborgene Spuren in sich.
Er wollte die Welt begreifen, um sich selbst zu formen –
nicht durch die Linse der bloßen Sicht, sondern mit einem inneren Blick, der durch Schatten drang und Bedeutung entschlüsselte.
Er begriff, dass sowohl Denken als auch Glaube längst von einem herrschaftlichen Geist durchzogen waren,
einem Geist, der Wahrheit zerstückelte und Sinn besetzte –
so wie die Politik in den Geografien der Unterdrückung es seit jeher tat.
Zwischen dem, was in ihm zerbrach, und dem, was er schweigend neu erschuf,
schöpfte Numan aus seiner Wunde, um zu schreiben –
blickte durch ein kleines Fenster in seinem Herzen auf ein fernes Licht.
Und jedes Mal, wenn er zu sich selbst zurückkehrte,
kehrte er zu seinem Traum zurück – aus einer anderen Richtung, reiner, zarter,
und wollte nicht, dass er endet.
Etwas rief ihn: Lehrer zu werden.
Nicht, weil er sich für überlegen hielt,
sondern weil er die Verlorenheit kannte –
und eine Karte sein wollte für jene, die nach ihm kamen.
Er wollte, dass das Wort Zuflucht sei,
dass das Klassenzimmer zur Bühne eines leisen Aufbruchs wird,
wo Seelen ins Licht treten dürfen.
Und jedes Mal, wenn er heimfand,
blühte der Traum von Neuem –
ein Traum, der einen weiteren gebar,
und eine Tinte, die das Morgen tränkte.

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Hinweis des Autors
Zur Gewährleistung sprachlicher Präzision und stilistischer Ausgewogenheit wurde diese Übersetzung mit größter Sorgfalt angefertigt. In einzelnen Passagen kamen behutsam digitale Hilfsmittel zum Einsatz, stets unter Wahrung der künstlerischen Intention und des Erzähltons der Originalfassung.

Nachwort des Autors
Diese Seiten erzählen keine bloß persönliche Geschichte – sie sind ein Zeugnis des Herzens, das im Schatten der Angst heranwuchs, aus dem Schmerz des Exils geformt wurde, und an dessen Schwelle der Traum zu einem flammenden Weizenkorn reifte.
Ich bin in einem Land aufgewachsen, das ich bis zum Schmerz geliebt habe, nur um mitansehen zu müssen, wie es sich gegen sein eigenes Volk wandte – ein riesiger Käfig, in dem das Wort verfolgt und die Stimme erniedrigt wurde. Über ein halbes Jahrhundert Unterdrückung konnte das Licht in uns nicht löschen, aber es trieb zwei Drittel von uns in Lebenswege, die eines Menschen nicht würdig sind: getötet, verhaftet, vertrieben oder entwurzelt.
Und nun, da ich den letzten Punkt dieser Arbeit setze, stehe ich an einer anderen Schwelle – der Schwelle des Dankes.
Ich richte meinen aufrichtigen Dank und meine tiefe Wertschätzung an die Bundesrepublik Deutschland und an das deutsche Volk, die ihre Türen und Herzen für die Opfer von Gewalt und Zerstörung geöffnet haben. Ihr Land wurde für viele von uns nicht zum bloßen Exil, sondern zu einem neuen Anfang – einem Ort, an dem das Leben in Würde wieder möglich wurde.
Ihre Aufnahme war kein bloßer politischer Akt, sondern ein tiefmenschlicher – sie hat vielen von uns das Recht auf Leben zurückgegeben. Und mir persönlich hat sie die Möglichkeit geschenkt, zu schreiben, zu sprechen, zu träumen – nachdem die Träume in den Kerkern und unter den Dächern der Angst erstickt worden waren.

Dieser Roman ist – in einem seiner verborgenen Gesichter – ein Zeichen der Dankbarkeit gegenüber diesem neuen, offenen Land, das mich nicht fragte, woher ich komme, sondern: Was kannst du werden?
Dafür danke ich Deutschland – der Regierung und dem Volk.
Und danke ich allen, die daran glauben, dass ein Traum – selbst wenn er zögernd an der Schwelle verweilt – schließlich doch hinübertritt.

Als der Abend seinen letzten Vorhang über jene Lebensphase zog
und die Furcht schwand, dass einer meiner Liebsten der Willkür eines anderen ausgeliefert sein könnte,
wurde mir gewiss: Ich habe es geschrieben, wie ich es gelebt habe – Zeile für Zeile, Herzschlag für Herzschlag.
Backnang – Deutschland
Donnerstag, 22. Mai 2025
Numan Albarbari

Briefe an das Selbst