An der Schwelle zum Traum – Teil 06

Kapitel Dreiundzwanzig Ist es nicht Zeit für deine Geschichte, Muna?
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Sie sahen einander an – zu dritt – und in ihren Blicken lag ein stilles Gemisch aus Stolz und Schmerz, als hätte die Erinnerung selbst ihre Finger auf die Lider gelegt. In ihren Herzen zitterte etwas Unsichtbares – wie ein Schatten aus einem alten Traum, den die Sehnsucht leise geweckt hatte.
Numan stockte. Seine Stimme war nahe daran, ihn zu verraten. Ein Zittern kroch über seine Wangen, und er hoffte, dass weder Muna noch ihr Vater das flüchtige Glänzen in seinen Augen bemerkten. Für einen Moment verharrte er, dann wandte er sich langsam zu ihr um und flüsterte:
„Ist es nicht Zeit für deine Geschichte, Muna?“
Er sprach es mit einem Lächeln, das die Schwere der Stunde mildern sollte, doch sein Innerstes zog sich zusammen – als hätten die Worte selbst sich in seinem Hals verlaufen.
Muna schwieg zunächst, suchte ihre Worte zwischen den Atemzügen. Dann begann sie zu erzählen – von ihrer Mutter, ihren Großeltern mütterlicherseits und von der Wärme – oder auch Kälte – derer, die ihnen nah und fern gewesen waren.
Sie sprach lange – mit einer Sprache voller Liebe, durchzogen von jener Achtung, die nur durch gelebte Nähe und schmerzhaftes Vermissen entsteht.
„Meine Mutter war nicht einfach eine Mutter“, begann sie. „Sie war eine ganze Welt. Sie hat an der Universität Arabisch unterrichtet – Poesie zum Leben erweckt, die Grammatik zum Singen gebracht und die Rhetorik wie Jasminranken von den Sätzen hängen lassen – wie auf einem Balkon in Beirut.“
Sie hielt inne. Ihre Stimme zögerte – schwer von all dem, was nicht gesagt werden konnte – dann fuhr sie mit einem leisen Seufzen fort:
„Doch zu Hause… war sie einfach: Mutter, wie eine Mutter sein sollte – sanft, entschieden, verständnisvoll. Tief in ihren Gedanken – tief in ihrer Liebe.“
Munas Augen glitten in die Ferne, dann hob sie ihren Blick zur Decke, als suche sie dort ein Echo der Vergangenheit. Als sie Numan wieder ansah, war ihr Blick milder, ihr Lächeln schwach, fast entschuldigend – wie eine Hand, die versucht, Nebel von einem alten Spiegel zu wischen.
Dann sprach sie weiter, ihre Stimme getragen von Erinnerungen, die sie zu fassen versuchte – nicht zu verlieren:
„Für sie war ich kein Kind, das man erzieht, sondern ein Projekt, das man begleitet. Eine Freundin, der man zuhört – eine Frau, die von einer anderen Frau das Leben lernt. Sie hat mich nie bestraft. Sie hat mit mir gesprochen. Immer wieder sagte sie: ‚Freiheit, Muna… die wird dir nicht geschenkt. Du wirst in sie hineinwachsen.‘“
Numan schwieg. Ihre Worte hatten ein Gewicht, das alles andere zum Schweigen brachte. Der Raum wurde still – nicht aus Höflichkeit, sondern aus Achtung. Munas Augen glänzten. Doch die Tränen, die sich darin sammelten, fanden keinen Weg hinaus.
Sie hielt stand. Ihre Stimme war klar – wenn auch bebend vom Verlust:
„Als sie starb… war es, als würde jemand einen Teil meiner Seele ganz langsam herauslösen. Es tat nicht weh wie ein Schlag – sondern wie Licht, das leise erlischt.
Alles, was ich heute bin… ist sie.
Ich bin, im Grunde, nur ein warmer Schatten ihrer Stimme. Eine verblasste Kopie ihres großen Herzens.“
Numan unterbrach sie nicht. Kein Wort. Kein Räuspern. Er hörte einfach nur zu – mit jener tiefen, ehrfürchtigen Stille, die entsteht, wenn das Herz plötzlich begreift, dass es Zeuge eines Schmerzes wird, den Worte kaum zu fassen vermögen.
Seine Augen waren weit geöffnet, nicht aus Überraschung, sondern aus dem Wunsch, jedes Wort von Muna wie ein Geheimnis in sich aufzunehmen – als höre er es zum ersten Mal.
Etwas in seinem Blick war anders als sonst. Eine stille Würde, die sich langsam in seinem Inneren ausbreitete. Eine Erkenntnis wuchs in ihm: Dass ein Mensch ein Echo vergangener Liebe sein kann.
Leise, fast unhörbar, sprach er zu sich selbst:
„Wie selten sind jene, die aus reiner Liebe heraus erzogen wurden. Und wie rein jene, die die Wärme der Abwesenden in sich tragen.“
Muna hatte aufgehört zu sprechen. Der Raum war noch immer erfüllt vom Nachklang ihrer Worte.
Numan wusste nicht, wie er all das ausdrücken sollte, was in ihm vorging – aber seine Augen sagten mehr, als sein Mund je gekonnt hätte.
Sie sah ihn an, ihre Stimme nun noch leiser:
„Sie war nicht nur meine Mutter. Sie war mein Spiegel, mein Kompass, meine Freundin… und immer einen Schritt voraus. Sie wusste, was ich dachte, bevor ich es sagen konnte.
Und nach ihrem Tod… musste ich Mutter sein.
Aber… für wen? Sie nahm meinen kleinen Bruder mit sich – den, den wir beide so sehr liebten.
Als hätte sie mir nichts hinterlassen außer einem alten, abgetragenen Stück Stoff. Ich hielt es lange für eine bloße Erinnerung. Doch irgendwann verstand ich:
Selbst nach ihrem Tod bestand sie darauf, mich damit Stärke zu lehren.“
Numan stützte sein Kinn in die Handfläche und flüsterte, als spreche er mit seinem eigenen Herz:
„Es ist ein Geschenk, mit einer solchen Liebe aufzuwachsen…
Eine Liebe, die Flügel verleiht. Und selbst wenn der Tod einen davon bricht – fliegt man mit dem anderen weiter.“
Nach kurzem Zögern fragte er:
„Muna… schreibst du eigentlich?“
Überrascht sah sie ihn an.
„Schreiben? Ich?“
Er lächelte.
„Ich meine… wie du erzählst. Deine Sprache, deine Bilder, die Art, wie du sie zurückholst. Wenn du das aufschreibst – es würde viele berühren.“
Zum ersten Mal legte sich ein echtes, reines Lächeln auf ihre Lippen – frei von jeder Maske, geboren aus dem Gefühl, dass jemand einen verborgenen Wert in ihr gesehen hatte.
Sie sagte:
„Vielleicht… Vielleicht beginne ich damit.
Sie hätte es verdient, mehr als jeder andere.“
Numan stand leise auf, verschwand kurz in einem Nebenraum und kam mit einem kleinen, in dunkles Leder gebundenen Notizbuch zurück.
Er reichte es ihr mit einem sanften Blick:
„Dann fang an. Jetzt.“
Muna zögerte einen Moment, dann ergriff sie Numans Hand – wortlos, doch ihre Augen sprachen Bände. Es war ein leiser Augenblick, der in beiden Herzen wie der erste Takt eines neuen Liedes klang: ein Gefühl, noch namenlos, aber geboren.
Am gegenüberliegenden Ende des Raumes konnte Herr Ahmad die Wucht der aufrichtigen Emotionen nicht länger ertragen. Leise zog er sich zurück und ließ die beiden allein – damit sie das, was die Zeit ihnen genommen hatte, gemeinsam wiederfinden konnten.

Herr Ahmad war oft in ihren Abenden präsent, teilte wissenschaftliche Interessen und berufliche Geschichten. Doch seine Gesichtszüge verrieten mehr: eine tiefe Liebe, die sein Leben durchdrang – und Muna war ihre schönste Frucht.
In seinen Gedanken kehrte immer wieder eine Geschichte zurück, kurz, aber umfassend – seine eigene. Eines Tages würde er sie erzählen, wenn die Zeit reif war.
Geboren in einer engen Gasse, wo Häuser so dicht standen wie die Geheimnisse ihrer Bewohner, wuchs Ahmad als Jüngster seiner Geschwister auf. Sein Blick war anders – tiefer, nachdenklicher. Während andere Kinder spielten, saß er oft unter dem Licht einer Laterne, vertieft in ein gebrauchtes Buch, dessen Seiten er behandelte, als wären sie zerbrechliche Träume.
In abgetragenen Kleidern ging er zur Schule, kehrte jedoch täglich mit Lob zurück, das mehr in sein Heft geschrieben wurde, als im Unterricht ausgesprochen. Sein Erfolg war still, aber beständig – wie ein Docht, der in der Dunkelheit des Mangels leuchtet.

Da das Leben ihm keine blumigen Wege bot, arbeitete Ahmad von klein auf: verteilte Brot, tippte Dokumente in einem kleinen Büro, half einem blinden Gelehrten beim Ordnen seiner Bibliothek – im Austausch für Stunden des freien Lesens.

Zwischen Arbeit und Studium stieg Ahmad empor wie eine Laterne in einer dunklen Nacht. Als er die Oberstufe erreichte, wurde sein Name in benachbarten Schulen bekannt. Ein Stipendium – ein erster Hauch von Gerechtigkeit in seinem Leben – führte ihn nach Frankreich, zu ihren ehrwürdigen Universitäten. Dort öffneten sich Türen, die er sich nie erträumt hatte.

In einer Bibliothek traf er sie: Maya, Tochter einer wohlhabenden Familie, schön nicht durch Eitelkeit, sondern durch eine innere Klarheit. Sie widmete sich ihrem Studium, als würde sie etwas Zerbrechliches in ihrer Seele heilen. Er, der junge Mann aus bescheidenen Verhältnissen, hatte nichts als seinen Intellekt, seine aufrichtigen Worte und einen Blick, der mehr sagte als Worte.

Sie lernten sich kennen – und liebten sich. Ihre Liebe war kein flüchtiger Sommertraum in Paris, sondern eine Pflanze, die zwischen Studienbüchern, in stillen Ecken der Bibliothek und auf Gehwegen wuchs, die sie kannten, bevor sie sich selbst kannten.

Sie stellte ihn ihrem Vater vor, einem Mann, der nur denen vertraute, die durch Taten überzeugten. Ahmad war dieser Herausforderung gewachsen. Als er nach Beirut zurückkehrte, trat er in die Baufirma ihres Vaters ein.

Ironischerweise war es dieselbe Firma, die ihm einst das Stipendium ermöglicht hatte – ohne dass einer von beiden wusste, dass das Schicksal bereits damals leise seine Fäden spann.
Doch es dauerte nicht lange, bis er ihr ein neues Gesicht verlieh.
Er hauchte ihr das Wissen ein, das seine Seele über Jahre gesammelt hatte, füllte sie mit seinem Verständnis, seiner stillen Beharrlichkeit.
Mit seltener Leidenschaft verfolgte er die Projekte, wachte über jedes Detail, als würde er ein Haus für seine eigene Mutter bauen.
Und bei alldem vergaß er Maya nie.
Sie war der Grund, der Weg, das Licht, dem er folgte.
Seine Liebe zu ihr war kein Versprechen in Worten – sie war Handlung.
Sorgfalt, die den Alltag durchdrang.
Treue, die nicht schwankte.
Ein stilles Opfer, das er für ihren Vater brachte – Tag für Tag.
Es verging nicht viel Zeit, bis dieser Mann – erfahren, anspruchsvoll, schwer zu beeindrucken – ihn mit anderen Augen sah.
Nicht mehr bloß als einen jungen Mann, der die Bedingungen eines Stipendiums erfüllt.
Sondern als einen zukünftigen Schwiegersohn, auf den man zählen konnte.
Und schließlich… als Sohn. Einen, den ihm das Leben schenkte, nicht das Blut.

Der Abend senkte sich sanft über die Hügel, während die Sonne langsam hinter den Kuppen verschwand und den Himmel in namenlose Farben tauchte. Auf der Veranda saß Muna, die Augen auf das stille Erwachen der Natur gerichtet, während ihr Vater schweigend am Rand stand, eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand.

Es war kein gewöhnliches Schweigen; es war ein Moment, der von unausgesprochenen Worten erfüllt war, ein leiser Dialog zwischen zwei Seelen.

Mit einem Hauch von Unsicherheit und Neugier in der Stimme sagte Muna:
„Papa… ich liebe dich. Und ich liebe dich noch mehr, wenn du mir von Mama erzählst.“
Er wandte sich ihr zu, blickte ihr tief in die Augen und lächelte – jenes Lächeln, das nicht auf den Lippen, sondern im Herzen entsteht.
„Ach, Muna! Was weißt du denn nicht über sie? Oder möchtest du etwas Bestimmtes erfahren, mein Kind?“
„Alles… aber besonders: Wie habt ihr euch kennengelernt? Warum habt ihr euch verliebt? Und warum hat sie dich gewählt, unter all den Möglichkeiten, die sie hatte?“
Er lachte leise, setzte sich ihr gegenüber und stellte die Tasse auf den kleinen Holztisch.
„Sie hat mich nicht aus allen gewählt… und ich habe sie auch nicht gewählt. Es war das, was uns verband, das die Wahl traf. Etwas, das ich selbst zu verstehen versuchte, aber sie war schneller darin, es zu erkennen, zu interpretieren und umzusetzen. Vielleicht war es mein Talent, vielleicht meine Ehrlichkeit, oder vielleicht… weil ich arm war. Aber meine Armut konnte mich nie besiegen, sie hat mich nie gebrochen.“
Er schwieg einen Moment, seine Augen verloren sich in der Ferne, als spräche er mit einem Schatten der Vergangenheit, der noch immer warm in seinem Herzen lebte.
„Ich traf sie in der Universitätsbibliothek in Paris. Ich stand zwischen den Bücherregalen, suchte nach einem Werk, das Ingenieurwesen mit Philosophie verband, als ich ihre Stimme hörte, wie sie nach einem Buch fragte, das arabische Literatur mit Philosophie verknüpfte. Wir lachten gemeinsam, als wir erfuhren, dass ich Ingenieurwesen studierte und sie arabische Literatur. Doch jeder von uns suchte nach der tieferen Bedeutung in seinem Studium. Unsere Bekanntschaft vertiefte sich, als uns die Sprache der Heimat und die Wunden der Fremde verbanden, die zwischen uns eine neue Sprache entstehen ließen. Sie stammte aus einem wohlhabenden Haus, war reich, aber in ihrem Inneren trug sie die Reinheit und Einfachheit, die keine äußeren Erscheinungen kannte oder begehrte.“
„Ich fand mich schnell in sie verliebt, nicht wahr?“
sagte Muna und neigte den Kopf.
„Nein, es war keine Liebe auf den ersten Blick… es war Liebe auf den ersten Respekt. Der erste Eindruck von Aufmerksamkeit, von Ruhe, von eurer gemeinsamen Leidenschaft für das Studium.“
Nach einer Weile des Schweigens fragte Muna ihren Vater leise:
„Und Mama? Wie konnte sie dich lieben? Wusste sie nicht, dass du arm warst?“
Ein feiner Schatten glitt über Ahmads Gesicht. Für einen Moment schien sich die Zeit in ihm zu sammeln, bevor er mit ruhiger Stimme antwortete – eine Stimme, in der sich Zärtlichkeit mit einem Hauch innerer Wachsamkeit vermischte:
„Sie wusste es. Und sie liebte mich trotzdem. Ohne dass wir es aussprechen mussten. Einmal sagte sie zu mir: ‚Du bist reich – auf deine Weise.‘“
Seine Stimme wurde wärmer, fast träumerisch, getragen von einer tiefen Liebe und stillem Stolz:
„Mein Reichtum war mein Talent, mein Wort, mein Herz. Sie hat das erkannt. Und das hat ihr genügt.“
Er hielt inne. Seine Augen verloren sich in einer fernen Erinnerung, als trinke er einen Tropfen reiner Vergangenheit. Dann sprach er leiser:
„Muna… Deine Mutter war mein Traum, und ich war der ihre. Unsere Träume haben sich in dir gefunden. An dem Tag, an dem du in diese Welt kamst, begann unser Traum wirklich zu leben. Du bist die Wahrheit, die beide Träume vereint.“
Ein sanftes Lächeln erschien auf Munas Gesicht, ihre Augen schimmerten vom Licht innerer Rührung. Sie streckte die Hand aus, legte sie in die ihres Vaters und sagte:
„Ich bin stolz auf euch. Und wenn ich eines Tages lieben sollte, wünsche ich mir, dass meine Liebe eurer gleicht.“
Ahmad lächelte still, legte liebevoll seine Hand auf ihren Kopf:
„Und wenn das geschieht, wirst du klüger sein als wir. Denn du bist unsere Tochter – Tochter einer Liebe, die wir nie gefürchtet haben, sondern an die wir bis zum Ende geglaubt haben.“
Muna schwieg. In der stillen, lichtgetränkten Atmosphäre der Erinnerung breitete sich in ihrem Herzen eine Hoffnung aus – schön, still, voller Stolz.

Kapitel Vierundzwanzig Am Rande der Lektüre
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An einem stillen Herbstabend, als der Wind spielerisch durch das vergilbte Laub strich, saßen Numan und Muna an einem kleinen Holztisch in der Ecke der heimeligen Bibliothek. Das Licht war gedämpft, als wolle die Nacht selbst ihr Schweigen mit Sorgfalt weben. Vor ihnen lagen geöffnete Notizblätter, und in ihren Händen dampften dunkle Kaffeetassen – wie geschaffen für eine Stimmung des Innehaltens, als könne jeder Schluck den Geist klären und die Gedanken neu ordnen.
Beide hielten ein Heft in der Hand, gefüllt mit persönlichen Eindrücken zu einem Werk, das sie gleichermaßen fasziniert hatte: Anna Karenina von Tolstoi. Numan blätterte bedächtig durch die Seiten, dann hob er den Blick und begann ruhig, fast wie ein Lehrer, der seine Gedanken sorgfältig sortiert:
„Ich habe meine Notizen so überschrieben:
Anna Karenina, von Lew Tolstoi, erschienen 1877. Genre: Gesellschaftsdrama – eine psychologische Analyse innerhalb des russischen Adelsmilieus.“
Er hielt kurz inne, seine Stimme wurde fester, eindringlicher:
„Der Roman entfaltet sich in einem Geflecht aus Tradition und Schein. Im Zentrum steht Anna, eine verheiratete Frau, die sich leidenschaftlich in den Offizier Wronski verliebt. Ihre Liebe führt sie auf einen Weg voller Schande und Einsamkeit – bis zu jenem tragischen Moment unter den Rädern des Zuges.“
Muna unterbrach ihn mit einem warmen Tonfall, der das Gespräch auf eine neue Ebene hob:
„Aber es ist nicht nur Annas Geschichte. Es ist ein Geflecht aus kreuzenden Herzen. Ich habe mir eine parallele Linie notiert, die ebenso bedeutend ist: Lewin und Kitty. Lewin – diese nachdenkliche Gestalt im Hintergrund – sucht nach dem Sinn jenseits des Lärms. In Kitty findet er eine Gefährtin, die ihn an der Hand nimmt, hin zur Klarheit des Landlebens, zum Glauben.“
Numan nickte zustimmend und fuhr fort, mit einem Blick auf seine Notizen:
„Für mich geht es Tolstoi nicht um ‚Untreue‘. Es ist die Tragödie einer Seele, die keinen Platz findet. Anna ist keine Betrügerin. Sie ist ein Mensch, zerrissen zwischen Pflicht und Gefühl – zwischen der Rolle als Ehefrau und Mutter, und dem Wunsch, als liebende Frau zu leben.“
Muna stand langsam auf, nahm ihr Blatt zur Hand und begann leise zu lesen – jedes Wort schien durch ihre Stimme eine neue Tiefe zu gewinnen, voller innerer Spannung:
„Anna ist klug, von betörender Ausstrahlung – doch das kalte Leben, das ihr durch die Ehe mit Karenin auferlegt wurde, steht ihr nicht. Sie jagte dem Traum der Liebe nach – und zahlte dafür: mit Ausgrenzung, mit Eifersucht, mit einem seelischen Zerfall, der unaufhaltsam war… Bis sie unter dem Zug verschwand, wie jemand, der keinen Ausweg zwischen den Gleisen mehr sieht.“
Numan hob langsam den Zeigefinger, sein Blick blieb an einer anderen Seite seines Notizbuchs hängen. In seiner Stimme lag ein nachdenklicher Klang, als er fortfuhr:
„Ich habe auch eine Analyse zu Wronskij hinzugefügt …
Ein Reiter der Oberschicht, der Liebe für einen leichten Ritt hielt – eine sentimentale Flucht. Doch als er plötzlich für das Leben einer Frau verantwortlich war, die alles für ihn aufgegeben hatte, verlor er den Halt. Er war kein Bösewicht, nur zerbrechlich. Zwischen Begehren und gesellschaftlichem Anspruch verirrte er sich – und mit ihm ging Anna zugrunde.“
Einen Moment lang herrschte völlige Stille. Es war, als würde der Raum selbst in den Nachklang ihrer Worte eintauchen, als wäre die Geschichte gerade erst geboren worden – mitten unter ihnen.
Muna betrachtete Numan, ohne etwas zu sagen. Ihr Vater, der dem Gespräch mit ruhiger Aufmerksamkeit gefolgt war, schloss die Augen für einen Augenblick – als läge die Schönheit nicht nur in den Worten selbst, sondern im Verstehen dessen, was unausgesprochen blieb.
Nach einer Weile fragte Muna leise:
„Papa … glaubst du, Anna hätte einen anderen Weg finden können? Hätte sie ein Leben außerhalb dieses Konflikts führen können?“
Ihr Vater schwieg kurz, dann hob er leicht die Schultern. Mit einem Lächeln, das Nachdenklichkeit und Milde zugleich verriet, antwortete er:
„Vielleicht. Aber ihr Kampf war zutiefst menschlich –
ein Ringen zwischen der Angst vor dem Ungewissen und dem Mut zur Veränderung.
Sie hat vielleicht den Weg gewählt, der sie mit ihrem Schicksal konfrontierte,
doch im Grunde war sie auf der Suche nach etwas Tieferem – und fand nur die Kluft zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit.“
Wieder kehrte Stille ein.
Als der Kaffee fast ausgetrunken war, füllten sich ihre Blicke mit einem leisen Verstehen –
ein stilles Einvernehmen, als hätte jede einzelne Aussage etwas Unsichtbares beleuchtet,
etwas, das unter der Oberfläche der Geschichte verborgen lag.
Muna lächelte, nahm ihren Stift und sagte:
„Und ihr Ehemann Karenin … war nichts als Kälte.
Er liebte nicht, hasste nicht –
er wog alles mit dem Maßstab der Gesellschaft, nicht mit dem Herzen.
Er konnte Anna nicht halten, als sie es gebraucht hätte,
aber er zerstörte sie auch nicht aus Absicht.“
Dann beugten sich Numan und Muna gemeinsam über die letzte Zeile auf dem Blatt.
Eine gemeinsame Essenz hatte sich zwischen ihnen verdichtet –
klar, ruhig, fast wie ein Urteil aus innerer Nähe:
Figur Wesentliche Eigenschaften Rolle in der Tragödie
Anna leidenschaftlich, klug, zerrissen Tragische Heldin auf der Suche nach Liebe
Wronskij charmant, gefühlsbetont, unsicher Zerrissener Liebhaber, Opfer gesellschaftlicher Oberflächlichkeit
Karenin konservativ, rational, kalt Symbol für soziale Normen und traditionelle Ordnung

Dann flüsterte Muna – leise, fast wie ein Echo, das aus der Tiefe eines gelesenen Kapitels aufstieg:
„Lewin war etwas anderes … fast wie Tolstoi selbst.
Ein Mann, der fragt: ‚Warum leben wir?‘
Und die Antwort findet er im Acker,
in einer bescheidenen Liebe
und in einem Glauben, der keine Predigten braucht –
und keine Kirchen.“
Beide schwiegen.
Ein stilles Einvernehmen lag zwischen ihnen,
während ihre Gedanken über die Karte der Symbole glitten,
die sie gemeinsam entworfen hatten:
🚂 Der Zug – ein Symbol für das Schicksal,
für eine gnadenlose Moderne
und für eine Leidenschaft,
die alles unter sich begräbt.
🌿 Land versus Stadt –
die Stadt: Ort des Lärms, der Masken, der Illusionen.
Das Land: Raum des Friedens, der Ehrlichkeit, der Rückkehr zum Wesentlichen.
♻️ Spiegelnde Gegensätze:
Gegensatzpaar Bedeutung
Anna × Kitty zerstörerische Liebe × ausgewogene Liebe
Wronskij × Lewin ohnmächtiger Liebender × suchender Weiser
Stadt × Land Zerrissenheit × Harmonie
Selbstmord × Glaube Sinnverlust × spirituelle Entdeckung

Muna schloss ruhig ihr Notizbuch. Ihre Stimme war sanft, aber bestimmt, als sie sagte:
„Es ist nicht bloß ein Roman über Verrat …
es ist ein Spiegel der menschlichen Seele.
Als würde Tolstoi uns zuflüstern:
Lieben – das heißt, auf Messers Schneide zu gehen.
Und fragen – Warum leben wir?“
Numan sah sie einen Moment lang an,
dann lächelte er nachdenklich und sagte:
„An der Schwelle dieser Frage beginnt jede Geschichte …
vielleicht auch das Leben selbst.“
In einer abgelegenen Ecke des Cafés, wo ein alter Walnussbaum seinen Schatten wie eine schützende Hand ausbreitete, saßen Numan und Muna einander gegenüber. Zwischen ihnen standen zwei dampfende Tassen Kaffee, und ein einvernehmliches Schweigen erlaubte es den Gedanken, frei zu fließen.
Muna blickte Numan mit einem schelmischen Lächeln an, ihre Augen halb neckend, halb prüfend. Mit einer Stimme, so sanft wie eine Feder, die die Wasseroberfläche berührt, fragte sie:
„Hast du je gelesen, wer Tolstoi wirklich war?“
Numan erkannte den spielerischen Unterton in ihrer Frage und das funkelnde Interesse in ihren Augen. Er lächelte, nahm einen kleinen Schluck Kaffee, als würde er einen fernen Gedanken heraufbeschwören, und antwortete ruhig:
„Lew Nikolajewitsch Tolstoi war mehr als nur ein großer russischer Schriftsteller. Er war ein Atemzug der menschlichen Literatur, ein Mann, dem es vergönnt war, mehrere Leben in einem einzigen zu führen.“
Er lehnte sich zurück, seine Stimme wurde zu einem sanften Fluss, der sowohl zu Muna als auch zu sich selbst sprach:
„Geboren 1828, gestorben 1910 – Tolstoi war nicht nur Romanautor, sondern auch Philosoph und sozialer Reformer. Er wandte sich von seiner aristokratischen Herkunft ab, suchte die Einfachheit im Handwerk, in der Erde, im Schweiß – fernab von noblen Kragen. In seinen letzten Tagen verließ er heimlich sein Zuhause, gab Reichtum und Ruhm auf und starb in einer abgelegenen Bahnstation – als wollte er das Leben ohne Titel und Lärm verlassen, nur in der Nähe der Erde.“
Muna spürte ein leichtes Frösteln, nicht vor Kälte, sondern vor der Tiefe seiner Worte. Sie flüsterte:
„Und war er glücklich, als er all das hinter sich ließ?“
Er antwortete ohne Zögern, seine Stimme etwas leiser:
„Ich weiß es nicht… aber es schien, als wollte er in Frieden sterben, nicht im Triumph.“
Er atmete tief durch, seine Finger glitten über die hölzerne Tischplatte, als suchten sie in einer alten Schublade der Erinnerungen, dann sagte er:
„Seine bekanntesten Werke? ‘Krieg und Frieden’ – ein Epos über Russland zur Zeit Napoleons; ‘Anna Karenina’ – ein Roman, der mich den Zug ein wenig fürchten ließ; ‘Auferstehung’ – ein Versuch seiner eigenen Wiedergeburt, nicht nur der seiner Figuren. Und dann gibt es noch Kurzgeschichten wie ‘Der Tod des Iwan Iljitsch’, ‘Wieviel Erde braucht der Mensch?’ und ‘Der Teufel’…“
Muna unterbrach ihn, ihre Neugierde leuchtete wie ein Kind, das einem Schmetterling nachjagt:
„Und welches Werk hat dich am meisten berührt?“
Er lächelte sanft, sah sie an, als gestehe er etwas:
„Vielleicht ‘Der Tod des Iwan Iljitsch’… weil es uns lehrt, ehrlich zu sterben, nicht in Verleugnung.“
Dann blickte er sie lange an, seine Augen sprachen ohne Worte, und er sagte:
„Doch das Wichtigste ist, dass er am Ende seines Lebens an etwas glaubte, das er ‘einfache christliche Moral’ nannte – ein Aufruf zu Bescheidenheit, Gewaltlosigkeit, Handarbeit und dem Widerstand gegen das Böse durch das Gute. Sein Denken beeinflusste Gandhi und später Martin Luther King. Er schrieb Literatur, lebte seine Überzeugungen und starb, wie er lebte: am Rande, nicht im Palast.“
Er neigte den Kopf leicht zu ihr, ein Hauch von Schalk in seinem Ausdruck, und schloss:
„Glaubst du, ich habe genug gelesen, meine Liebe? Oder wolltest du mich nur testen?“
Muna lachte, ihr Lachen war wie der erste Regen nach einer Dürre – klar, leicht, aufrichtig. Sie sah ihn an, ihre Augen funkelten vor zufriedener Verwunderung:
„Du hast mich gelesen, bevor du mir vorgelesen hast, Numan…“

Kapitel Fünfundzwanzig Gespräche, die nicht altern
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Muna drehte langsam einen kleinen Löffel zwischen ihren Fingern. Ihre Bewegungen wirkten fast gedankenverloren, als würde sie in einem alten Gedächtnisschacht nach etwas suchen.
„Sag mal … könntest du mir die wichtigsten russischen Schriftsteller der Weltliteratur ins Gedächtnis rufen?“ fragte sie schließlich, ohne aufzuschauen.
Numan lächelte bei dieser Frage – als hätte jemand eine längst vertraute Melodie angestimmt. Er blickte ihr in die Augen, und mit einem Ton, der Ehrfurcht und Vertrautheit zugleich verriet, antwortete er:
„Mit größtem Vergnügen … Sie sind eine Welt, die man immer wieder gern betritt.“
Er lehnte sich leicht vor, stützte sein Kinn auf die Handfläche, während Muna sich ganz ihm zuwandte – aufmerksam wie ein leeres Blatt, bereit, beschrieben zu werden.
„Fjodor Dostojewski (1821–1881) – der Philosoph der gequälten Seele, ein Meister der großen Fragen. Schuld und Sühne, Die Brüder Karamasow, Der Idiot … Niemand, so denke ich, hat je tiefer in den Menschen hineingeleuchtet.“
„Lew Tolstoi (1828–1910), der romanhafte Denker, hat Ethik und Zweifel in literarische Form gegossen. Krieg und Frieden, Anna Karenina, Der Tod des Iwan Iljitsch – seine Seele schwankte ständig zwischen Glaube und Rebellion, zwischen Askese und mystischer Schau.“
„Anton Tschechow (1860–1904) – der Arzt, der mit Worten heilte. Der Kirschgarten, Die Möwe, hunderte Kurzgeschichten. In seiner schlichten Tiefe stellte er die Fragen, die auch uns bewegen – ohne je zu behaupten, er habe die Antwort.“
„Nikolai Gogol (1809–1852), Vater der schwarzen Satire. Stell dir vor: eine Nase, die ihrem Besitzer entflieht. Ein Mantel, der Schicksale wendet. Die toten Seelen, Der Revisor – sein Werk mischt Schmerz mit surrealer Komik.“
„Iwan Turgenjew (1818–1883), der melancholische Romantiker, weltoffener als die meisten. In Väter und Söhne zeigte er wie kein anderer den Konflikt zwischen den Generationen. Seine Prosa war oft nichts anderes als leise Poesie.“
„Alexander Puschkin (1799–1837), der Begründer der modernen russischen Literatur. Dichter, Dramatiker, Erzähler – sein Einfluss war größer als sein kurzes Leben. Lies nur Eugen Onegin, und du weißt: Er schenkte Russland seine lebendige Literatursprache.“
„Und schließlich Alexander Solschenizyn (1918–2008) – eine furchtlose Stimme in einer Zeit der Angst. Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, Der Archipel Gulag … Er schrieb nicht nur gegen das System, er wurde mit dem Literaturnobelpreis dafür geehrt.“
Numan hob leicht die Augenbrauen – als wolle er ein ganzes Jahrhundert in einen einzigen Satz falten:
„Sie alle schrieben nicht, um zu unterhalten. Sie schrieben, um zu fragen: Warum leben wir? Für wen? Und wie können wir lieben in einer Welt, die uns so schwer auf den Schultern liegt?“
Muna lächelte, als hätte er genau das ausgesprochen, was in ihr lange namenlos geblieben war.
„Weißt du,“ sagte sie leise, „vielleicht ist das genau der Grund, warum ihre Literatur bleibt … weil sie uns fragt, statt für uns zu antworten.“
In einem gewöhnlichen Abend in Damaskus, wo der Tag langsam dem Abend wich, kehrte Numan erschöpft von seinem Architekturstudium zurück. Der Tag hatte sich schwer auf seine Schultern gelegt, und die Geräusche des Unterrichts hallten noch in seinem Kopf wider. Die Wohnung war in sanftes Licht getaucht, das von einer alten Lampe in der Ecke ausging und den Raum in eine Atmosphäre der Ruhe hüllte.
Numan ließ sich auf das Sofa fallen und griff nach dem Buch, das er am Morgen zurückgelassen hatte: “Anna Karenina”. Er schlug die Seite auf, an der er aufgehört hatte, und seine Augen glitten über die Zeilen, während seine Gedanken in die Welt der Geschichte eintauchten.
In diesem Moment trat Muna aus der Küche, die Hände noch vom Abtrocknen feucht. Sie bemerkte Numans versunkenes Gesicht und setzte sich leise neben ihn. Nach einem Moment des Schweigens fragte sie mit leiser Stimme:
“Numan… hättest du mich verlassen, wenn ich wie Anna Karenina gewesen wäre?”
Numan hob langsam den Blick, als würde er aus einem Traum erwachen, und antwortete nachdenklich:
“Sie wurde von allen verlassen, Muna… sie fand niemanden, der ihre Ängste verstand.”
Muna sah auf das Buch in seinen Händen und sagte:
“Aber sie floh… vor ihrem Sohn, ihrem Ehemann, allem. War das nicht egoistisch?”
Numan atmete tief durch und erwiderte:
“Vielleicht… aber manchmal erscheint Egoismus als einziger Ausweg aus dem Schmerz. Sie suchte nach Wärme, nach jemandem, der sie wirklich sah und verstand.”
Muna senkte den Blick und flüsterte:
“Müssen wir Frauen rebellieren, um gesehen zu werden?”
Die Stille zwischen ihnen war voller unausgesprochener Gedanken, während das Licht der Lampe sanft auf sie fiel und ihre Schatten an die Wand warf.
In diesem Moment trat ihr Vater lautlos aus dem Flur. In der einen Hand hielt er ein Glas Tee, in der anderen Stille. Er blieb in der Tür stehen, sagte nichts, ließ den Blick schweifen – nicht fragend, sondern hörend. Seine Augen verrieten, dass er längst verstanden hatte: Es ging nicht nur um einen Roman.
Numan sah Muna lange an, legte das Buch behutsam beiseite und sagte mit jener ruhigen Ehrlichkeit, die man nicht spielt:
„Nein… ich glaube, manche Gesellschaften beherrschen es meisterhaft, die Augen vor euch zu verschließen – so lange, bis ihr schreit. Erst dann sehen sie euch – aber als Bedrohung, nicht als Wesen, das einfach nur geliebt werden will.“
Munas Vater nickte langsam, ein kaum hörbares Seufzen löste sich von seinen Lippen. Dann setzte er sich gegenüber, ohne ein Wort. Nach einer Weile fragte er leise – kaum merklich, aber nicht ohne Sorge:
„Hast du Angst, ihr Schicksal zu teilen?“
Munas Stimme zitterte leicht, aber sie wich dem Schmerz nicht aus:
„Ja… aber nicht, weil sie unter dem Zug endete. Sondern weil niemand da war, der ihre Hand hielt – bevor sie sprang.“
Numan beugte sich ein wenig zu ihr vor, seine Stimme weich wie Regen auf Fensterglas:
„Wenn du Anna wärst, dann wäre ich Levin… der, der bleibt. Nicht Wronski, müde von der Liebe und seiner eigenen Ohnmacht.“
Ein Lächeln huschte über Munas Gesicht – zart und verletzlich. Doch es blieb nicht, es verharrte wie der letzte Satz eines Kapitels, den man zweimal liest, um seine Tragweite zu begreifen.
„Dann… lies mich, wie du diese Seiten liest. Aber lass mein Ende nicht offen.“
Numan streckte langsam die Hand nach ihrer aus – ein Schweigen lag dazwischen, voller Einverständnis. Schließlich flüsterte er:
„Die Liebe schreibt kein Ende. Wir sind es, die den Punkt setzen – oder ihn offenlassen.“
Ein stiller Blick wechselte zwischen den dreien. Doch es war kein leerer Moment – sondern einer, der sprach, ohne Worte zu brauchen. Als hätte sich der nächste Satz bereits geschrieben – nicht mit Tinte, nicht auf Papier, sondern mit einem Blick, einem Atemzug, einem Herzen, das wusste: Das Leben – wie die großen Romane – endet nicht mit dem Zuklappen der letzten Seite.

Kapitel Sechsundzwanzig Wenn die Nacht sich legt
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Während sanfte Lüfte durch das Fenster des Zimmers strichen und das Mondlicht bleich und traurig hinter vereinzelten Wolken verblasste, lagen Fragen schwer in der Luft — verwirrt von der Klarheit mancher Details. Leise zog sich Numan zurück, nachdem er Muna mit einem leichten Lächeln verabschiedet hatte.
Er schloss die Tür hinter sich, atmete tief ein, als würde er so einen Funken inneren Friedens herbeirufen. Auf der Bettkante ließ er seinen müden Körper sinken und versuchte, seinen Geist von den Gedanken zu befreien, die wie ein endloser Strudel in seinem Kopf wirbelten.
Numan in sich:
„Bedeuteten ihre Worte etwa etwas anderes?“
Dann huschte ein flüchtiges Lächeln über seine Lippen:
„Natürlich… sie ist Muna. Sie lässt mich nie, ohne einen Sturm von Fragen in mir zu wecken, als öffne ihr Gespräch ein neues Fenster, durch das ich alles mit anderen Augen sehe.“
Für einen Moment schloss er die Augen und erinnerte sich an ihren Dialog über die russischen Schriftsteller. Diese Namen hatten sich wie Regentropfen in seinen Gedanken gesammelt, und einer nach dem anderen fing er sie auf, um weiter in ihren Tiefen zu schwimmen. Er dachte an Tolstois Worte über Gut und Böse und an seine eigene Leidenschaft, die menschliche Seele zu verstehen.
Leise fragte er sich:
„Suchen all diese Menschen nicht dieselbe Antwort, nach der auch ich strebe? Versuchen wir nicht alle, das Rätsel des Lebens mit dem Geschmack der Literatur zu lösen?“
Dann erinnerte er sich an Munas Frage zu den russischen Autoren. Ihre Stimme war nun wie eine Antwort in seinem Ohr, die sich erleichtert auf seiner Zunge ausbreitete:
„Die russischen Schriftsteller schrieben nicht nur zur Unterhaltung, sondern stellten existentielle Fragen, Fragen, die uns alle betreffen… Wir sind diejenigen, die sie lesen, und wir sind es, die weitersuchen.“
Doch war seine Stimme wirklich erfüllt von vollkommener Überzeugung? Oder spiegelte sie nur ein ideales Bild von ihnen wider — von ihren literarischen Persönlichkeiten, die für ihn längst mehr als nur Namen geworden waren?
Als er sich aufs Bett legte, warf das schwache Licht der Lampe neben ihm tanzende Schatten an die Wand, die seltsame Formen annahmen — als würden sie Gedanken nachhängen, die noch nicht geschrieben waren. Langsam zog er die Decke über sich, spürte eine Ruhe, die leise in sein Herz sickerte — doch bald kehrten neue Gedanken zurück, unaufhaltsam wie immer.
„Werde ich immer weiter in dieser endlosen Suche verharren?“
Er seufzte tief und dachte weiter:
„Bin ich an einem Punkt angekommen, an dem der Traum mehr ist als nur bloßer Ehrgeiz? Es ist ein dringendes Bedürfnis, mehr zu sein als nur ein junger Mann, der dem Leben hinterherläuft… Ich will verstehen! Ich will etwas anderes sein, etwas Besseres!“
In diesem Moment richtete Numan seinen Blick zur Zimmerdecke, wo ein Bild des Sonnenuntergangs hing — ein Gemälde, das wie eine stille Erinnerung an eine lange Reise wirkte, die er hinter sich hatte. Gedankenverloren fragte er sich:
„Ist das alles, was vom Leben bleibt? Endlose Fragen, ohne klare Antworten?“
Doch all das hielt ihn nicht davon ab, sich endlich dem Schlaf hinzugeben. Der Horizont löste sich langsam in seinem Geist auf, und die schwachen Lichtflecken an der Wand hinterließen ein ruhiges Staunen.

Im Zimmer von Muna:
Sie löschte die schwache Lampe neben ihrem Bett aus und legte sich nach einem langen Tag auf das Kissen. Ihre Gedanken wanderten zwischen Numans Worten und den leisen, tiefen Tönen hin und her, die seine Gefühle in ihrem Gespräch widerspiegelten.
Sie erinnerte sich an die Details seines Ausdrucks, als er die Namen der russischen Schriftsteller erwähnte — Namen, die ihr Gedächtnis schon oft durchwandert hatten. Doch was sie noch mehr bewegte, war das Funkeln in seinen Augen, wenn er über deren Philosophie sprach.
Muna in sich:
„Kann es wirklich sein, dass dieser junge Mann all diese Gedanken in seinem Gedächtnis bewahrt?“
Ein schüchternes Lächeln umspielte ihre Lippen:
„Vielleicht habe ich ihn unterschätzt… Er ist mehr als nur ein ehrgeiziger Mensch… Er ist ein Mensch voller Träume, voller ungewöhnlicher Gedanken.“
Sie erinnerte sich an sein Lachen, als sie sagte:
„Die russischen Schriftsteller haben nicht nur zur Unterhaltung geschrieben…“
Seine Stimme hallte in ihrem Ohr nach, wiederholte dieselben Worte, als ob sie in ihrem Kopf widerhallen würden. Sie spürte, dass sein Gespräch über sie eine Art Flucht war — eine Flucht in eine weitere, größere Welt, fernab vom Alltag. Und doch schien er dabei auch auf sich selbst zu zeigen.
„Sucht er wirklich nach sich selbst in der Literatur, so wie er sagt?
Oder versucht er nur, eine Rechtfertigung zu finden, um zu leben?“
Sie lächelte leise, schloss dann die Augen und dachte nach:
„Vielleicht… vielleicht steckt die Antwort auf alles in jenen Worten, in diesen Büchern…“
Langsam ließ sie sich in die ersehnte Ruhe sinken, jene Ruhe, auf die sie so lange gewartet hatte.
So zog die Nacht still dahin. Jeder von ihnen versank tief in seine Gedanken, jeder suchte in seinen Träumen nach sich selbst, nach neuen Wegen, dem Strudel des Lebens zu entkommen, und wartete auf einen neuen Morgen, der vielleicht die Antwort bringen würde.
In seinem Zimmer schloss Numan die Augen und gab sich dem Schlaf hin, doch fand keinen vollkommenen Frieden. Vor seinem inneren Auge öffnete sich eine merkwürdige Szene: Er stand auf einem hohen Balkon, der auf eine von Nebel umhüllte Stadt blickte. Alles um ihn herum war grau, Menschen bewegten sich in kreuzenden Bahnen, ohne einander anzusehen.
In seiner Hand hielt er ein offenes Buch, doch die Buchstaben flossen wie Wasser, verschwanden, kehrten zurück, zerstreuten sich wieder. Er versuchte zu lesen, zu verstehen, einen Satz zu fassen, doch die Seiten schlugen sich wie von selbst um, in einer Geschwindigkeit, die sein Sehen verwirrte – als ob die Zeit selbst sich gegen das Verstehen wandte.
Plötzlich erschien Muna aus der Menge, trug ein rotes Tuch und sah ihn aus der Ferne an, ohne näher zu kommen. Er wollte sie rufen, doch seine Stimme versagte, wollte zu ihr laufen, doch seine Füße schienen in der Erde verwurzelt, festgehalten vom Schatten der Angst.
Während er kämpfte, hörte er hinter sich eine sanfte Stimme sagen:
„Nicht jeder, der liest, versteht… und nicht jeder, der versteht, entkommt…“
Er drehte sich um, sah niemanden, aber vor sich stand ein großer Spiegel. In ihm zerbrach sein eigenes Bild in viele Gesichter, manche ihm ähnlich, andere fremd.
Er streckte die Hand aus, doch der Spiegel riss, und er fiel in einen bodenlosen Abgrund. Immer wieder hallte die alte Frage in ihm wider:
„Suchst du das Leben – oder fliehst du vor ihm?“
In einem anderen Zimmer umfing die Stille Muna, die nach einem schweren Tag die Augen schloss. Doch der Traum öffnete ihr eine andere Tür. Sie sah sich selbst durch einen langen Gang gehen, gesäumt von Büchern an beiden Seiten, die in der Luft schwebten und sich wie Planeten in ihren Bahnen drehten.
Jedes Buch öffnete sich von selbst, aus ihnen strömten leuchtende Bilder: Tolstoi, der einsam über ein vom Schweigen benetztes Feld ging; Dostojewski, der mit einem Gefangenen in einer engen Zelle sprach; Tschechow, der einem kranken Kind ein leicht melancholisches Lächeln schenkte.
Am Ende des Flurs sah sie Numan unter einem mächtigen Baum sitzen. Er kritzelte etwas in ein kleines Notizbuch. Sein Gesicht wirkte ruhig, seine Augen glänzten, als hätte er gefunden, wonach er so lange gesucht hatte.
Sie näherte sich ihm, wollte gerade fragen, was er da schrieb, doch er hob den Blick und sagte leise, sanft:
„Fragen beantwortet man nicht immer mit Worten … manchmal muss man sie leben.“
Dann verschwand er – als wäre er nie dagewesen. Das Notizbuch blieb offen im Gras liegen, aufgeschlagen auf einer Seite, auf der ein einzelner Satz stand, geschrieben in einer Schrift, die fast wie ihre eigene aussah:
„Vielleicht schreiben wir, um einander den Weg zu erhellen – nicht, um ihn ganz zu kennen …“
So legte sich die Nacht behutsam über ihre müden Körper, während ihre Seelen weiterreisten – durch die Sphäre des Traums, wo Bedeutung und Fantasie eins werden, wo es keine Trennung mehr gibt zwischen Dichtung und Bekenntnis.
Beide versanken in stillem Nachsinnen, in Zeichen, die zwischen Buchstaben und Schatten tanzten, suchten sich selbst im Spiegel des Anderen, warteten auf einen Morgen, der vielleicht eines Tages die Antwort bringt.
Zwischen Nacht und Dämmerung – in jenem zerbrechlichen Moment, da das Bewusstsein zwischen Schlaf und Erwachen schwankt – träumten Numan und Muna denselben Traum.
Es war, als hätten sich ihre Seelen vereint in einem Raum, der dieser Welt nicht gleicht, ohne Zeit, ohne Ort – nur das reine Dasein zweier Schatten, die Seite an Seite gingen.
Sie sahen sich in einem seltsamen Garten wieder. Die Bäume hatten schmale Stämme und hohe Zweige, ihre Blätter hingen herab wie ungesprochene Geheimnisse. Die Luft war so rein, dass sie die Sinne verwirrte, das Licht so zart wie das eines ersten Morgengebets.
Sie gingen schweigend nebeneinander – kein Wort war nötig. Jeder Gedanke im einen Kopf pulsierte im Herzen des anderen.
Unter einem Bogen aus Jasmin flüsterte Muna:
„Es fühlt sich an, als wären wir schon einmal hier gewesen …“
Numan antwortete, ohne sich umzudrehen:
„Weil es der Traum ist, den wir seit unserem ersten Treffen gemeinsam weben …“
Sie setzten sich auf einen weißen Felsen, der auf einen stillen Fluss blickte. Das Wasser quoll aus aufgeschlagenen Büchern, jedes trug einen vertrauten Titel, jede Seite erzählte ein Stück ihrer Geschichte.
Als Muna nach einem der Bücher griff, fand sie Zeilen in Numans Handschrift:
„Ich suchte mich selbst – und fand mich zwischen den Zeilen deiner Augen …“
Sie lächelte, als hätte sie genau gewusst, was er schreiben würde, und antwortete mit einer Stimme, so leicht wie der Wind:
„Ich rannte dem Traum hinterher – und er drehte sich um und nahm deine Gestalt an …“
Plötzlich veränderte sich die Szenerie: Sie fanden sich in einem Zug wieder, der durch nebelverhangene Landschaften fuhr. Man sah kaum mehr als die Züge des anderen. Sie saßen sich gegenüber, aber das Spiegelglas hinter Numan zeigte nur ein einziges Bild von beiden – als wären sie zwei Gesichter eines einzigen Spiegels, zwei Gedichte, gesungen von einer Sprache, die nicht gesprochen, sondern gefühlt wird.
An der Schwelle dieses zarten Traums fragte Numan:
„Glaubst du, der Traum kann auch die Körper verbinden – so wie er die Seelen vereint?“
„Vielleicht nicht … Vielleicht will der Traum nicht, dass sich Körper berühren, sondern dass sie sich erheben – sich an einem Punkt treffen, der tiefer liegt als jede Umarmung.“
In diesem Moment schien der Himmel sich dem Licht des Morgens zuzuwenden. Die Dämmerung schlich sich leise heran, löschte die Schatten des Traums aus, ließ die Konturen der Szene verschwimmen, wie Buchstaben, die im Fluss des Vergessens zergehen.
Langsam öffnete Numan die Augen. Das Zimmer füllte sich allmählich mit Licht. Der erste Impuls: den Traum aufzuschreiben. Doch er lächelte nur und atmete tief durch.
Zur gleichen Zeit öffnete Muna ihre Augen, starrte an die Decke, legte dann die Hand auf ihre Brust – als wolle sie prüfen, ob der Traum noch dort lebte, pulsierend.
Beide fragten sich im Stillen:
„War das ein Traum? Oder haben sich unsere Seelen wirklich an einem anderen Ort getroffen?“
Es gab keine Antwort.
Doch etwas Warmes durchströmte ihre Herzen – eine sanfte Gewissheit, die flüsterte:
„Was der Traum vereint hat, kann der Zweifel nicht trennen.“
So begrüßten sie den Morgen – nicht ganz wach, nicht mehr träumend – in jenem Zwischenzustand, in dem eine Liebe entsteht, die nicht besitzen will, sondern einfach nur da ist: leuchtend, wiederkehrend, in der Form zweier harmonischer Herzen.
Als der erste Sonnenstrahl durch die Fenster des weitläufigen Hauses fiel, durchzog der Duft von Kaffee die kleine Küche – ein Versprechen auf ein Treffen, das anders war als alle zuvor.
Numan saß am Holztisch, vor sich eine dampfende Tasse, deren aufsteigender Dampf wie ungeschriebene Worte in die Luft stieg.
Muna trat mit ruhigen Schritten ein, ihre Augen noch schwer vom leichten Schlaf, doch ein ungewohnter Glanz lag in ihnen – als wäre die Nacht keine gewöhnliche gewesen. Sie setzte sich ihm gegenüber, sprach kein Wort, schenkte ihm nur ein schüchternes Lächeln – wie der Anfang eines Gedichts, das darauf wartete, vollendet zu werden.
Numan sagte, seine Augen noch auf das Morgenlicht gerichtet, das sich am Rand der Tasse spiegelte:
„Ich sah uns zusammen … in einem Traum, der anders war als die flüchtigen. Wir waren an einem seltsamen Ort, ähnlich uns selbst und doch nicht – als lebten wir außerhalb der Zeit.“
Muna schnappte leise nach Luft, legte die Hand auf ihre Brust, als hätten seine Worte etwas Tiefes in ihr berührt.
„Ein Garten? Mit Bäumen, deren Zweige wie verborgene Geheimnisse herabhingen? Und ein Fluss, der aus Büchern floss?“
fragte sie, während sie ihm mit tiefer Verwunderung in die Augen sah.
Numan lächelte verwundert, fast ungläubig –
„Ja… genau. Ich schrieb dir etwas in ein offenes Buch… und du – du hast es gelesen!“
Muna senkte den Blick für einen Moment, dann hob sie ihn langsam wieder. In ihren Augen glänzte etwas, das sich keiner Beschreibung fügte. Mit einem flüsternden Ton, der wie ein entweichendes Geheimnis klang, sagte sie:
„Ich habe ihn auch gesehen, Numan… in allen Einzelheiten. Ich war dort. Und du… du sagtest mir: Der Traum will nicht, dass sich Körper berühren – er will, dass sie sich erheben.“
Ein langes Schweigen senkte sich über sie – aber es war kein belastendes Schweigen. Es war wie ein Raum, in dem Worte nicht gebraucht wurden. Die Zeit schien innezuhalten, lauschend, als wollte sie das Ungesagte schützen.
Muna spielte mit ihrer Kaffeetasse, drehte sie zwischen den Händen, dann flüsterte sie:
„Kann es sein, dass sich zwei Seelen im Traum begegnen – zur gleichen Zeit, ohne sich verabredet zu haben? Ist der Traum vielleicht eine Botschaft, die sich heimlich zwischen zwei Herzen bewegt?“
Numan sah sie an, seine Augen erfüllt von einem sanften Licht der Innerlichkeit.
„Vielleicht ist das, was wir gesehen haben, näher an der Wahrheit als alles andere – gerade weil es aus uns kam, nicht von außen. Vielleicht brauchen wir den Traum, um auszusprechen, was wir im Wachen kaum zu flüstern wagen…“
Er beugte sich leicht zu ihr hinüber. Seine Stimme war kaum hörbar – nur für sie bestimmt:
„Im Traum suchte ich nach mir selbst… und fand dich.“
Muna senkte erneut den Blick. Ihre Lippen bebten leicht, als hätte sie Angst, dass Worte das zerbrechliche Gefühl in ihr zerstören könnten. Schließlich sagte sie, beinahe atemlos:
„Und ich… ich rannte dem Hoffen hinterher – und fand dich wartend.“
Der Kaffee wurde langsam kalt. Doch zwischen ihnen wuchs etwas anderes – eine Wärme, die nicht von der Tasse kam. Kein Vater war diesmal nötig, keine andere Anwesenheit. Nur der Traum, der sich wie ein stilles Tuch zwischen sie gelegt hatte, behütet vom Licht, bestätigt vom Schweigen.
So saßen sie da, als würden sie eine gemeinsame Erinnerung erzählen – ein Gespräch, das keiner Erklärung bedurfte. Worte wuchsen zwischen ihnen wie die Zweige eines Jasminstrauchs, der sich windet, ohne zu fragen, weil er dafür gemacht ist, sich zu verweben.
An diesem Morgen war der Kaffee mehr als ein Getränk. Er wurde zum heimlichen Ritual, das sie verband – Muna und Numan – in einem Moment jenseits aller Gewohnheit. Ein Moment, den keine Augen gesehen hatten, aber den die Herzen längst kannten.
Das Schweigen hielt noch einen Augenblick an, aber jede unausgesprochene Silbe schwebte wie ein Hauch durch die Luft – als würde sie etwas Berührbares im Unsichtbaren streifen. Ein leichter Wind bewegte sich durch die geöffneten Fenster.
Muna betrachtete ihren Kaffee, als würde sich darin ein neues Geheimnis spiegeln. Dann ließ sie ihre Gedanken los – nur für einen Moment – und sah zu Numan auf, als hätte sie gerade etwas verstanden, das ihr bis jetzt verborgen geblieben war.
„Weißt du, Numan… Was ich in deinem Traum sah, was ich in diesen Momenten fühlte, schien das zu verkörpern, wonach wir die ganze Zeit gesucht haben. Als ob alles klar war, doch verborgen in den Tiefen der Seele.“
Numan lächelte sanft, hob seine Tasse und betrachtete den langsam kreisenden Kaffee, als würde er darin verstreute Gedanken erkennen.
„Das ist die Schönheit des Traums, Muna… Er gibt keine direkten Antworten, sondern gleicht verwobenen Fäden, die versuchen, das größere Bild zu verstehen.“
Nach einem Moment des nachdenklichen Schweigens fügte er hinzu:
„Ich glaube nicht, dass wir alles auf einmal begreifen können… Vielleicht ist es der Traum allein, der Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet.“
Muna sah ihm tief in die Augen, als suche sie nach einem verborgenen Geheimnis in seinen Worten. Sie erinnerte sich daran, wie sie einst an einem anderen Ort saß, fernab dieses Moments, und ihm zuhörte, als erzählte er eine seltsame Geschichte, die sie einst erlebt, aber vergessen hatte.
„Glaubst du, dass wir den Traum leben? Oder leben wir die Realität, wie sie uns auferlegt wird?“ fragte sie, während sich die Fragen in ihrem Geist wie ein kleiner Vogel zusammenballten, der fliegen möchte.
Numan hob den Blick zu ihr und lächelte nachdenklich, als betrachte er eine Welt, die über die Grenzen ihrer Küche hinausreichte:
„Manchmal denke ich, dass wir den Traum mehr leben als die Realität. Denn der Traum öffnet uns Horizonte voller Möglichkeiten… während uns die Realität durch ihre Begrenzungen fesselt.“
Muna warf einen flüchtigen Blick auf ihre Tasse, dann nickte sie leicht, als erkenne sie eine verborgene Wahrheit. Sie wollte ihn nach etwas fragen, das über den Traum hinausging, etwas, das sie persönlich betraf, doch sie zögerte, es laut auszusprechen.
„Manchmal fühle ich, dass der Traum mir den Sinn gibt, den ich suche. Nicht nur in der Literatur, sondern im Leben selbst“, sagte sie leise, als fürchte sie, die Tiefe ihres Herzens preiszugeben.
Ihre Blicke trafen sich, Gedanken flossen zwischen ihnen wie unsichtbare Buchstaben, die sich in der Luft formten. Beide spürten das neue Licht, das begann, ihre Herzen zu durchdringen, als ob etwas Neues in ihnen wuchs. Etwas, das einem Traum ähnelte, oder vielleicht mehr als ein Traum war, schwankend zwischen Wachsein und Fantasie.
„Was wäre, wenn der Traum genau das ist, was wir am meisten brauchen?“ sagte Muna und warf einen Blick auf den sich weitenden blauen Himmel draußen.
„Vielleicht… Aber die Wahrheit liegt im Leben zwischen beiden, zwischen Traum und Wachsein“, sagte Numan ruhig, als spräche er diese Worte auch zu sich selbst.
In jenem Moment schien alles um sie herum stillzustehen – ein Schweigen, das weder leer noch kalt war. Zwischen ihnen aber bewegten sich Gedanken und Empfindungen wie ein leiser Tanz, unvollendet, suchend. Es war kein Gespräch über die Zukunft, kein Wort über das Schicksal. Nur dieses leise Band zwischen ihren Seelen – kaum greifbar, und doch stark genug, dass die Zeit stillstand, als wäre sie ewig.
Die Sonne stieg höher und warf ein sanftes Licht auf den Tag. Etwas in diesem Morgen ließ alles wie einen Anfang wirken – den Anfang von etwas, das sich nicht in Worte fassen ließ. Und doch wussten beide, tief in sich, dass sich etwas verändert hatte. Etwas hatte begonnen.
Das Licht, das sich durch das Küchenfenster tastend hereinschlich, spielte auf ihren Gesichtern, streichelte die Schatten ihrer Gedanken und die Muster ihrer ineinander verschlungenen Träume. Alles um sie herum atmete Ruhe. Doch in ihren Herzen rauschte ein leiser Sturm – ein Sehnen nach dem Unbekannten, ein Gefühl, das sie zueinander zog, als würden sie denselben Weg gehen, ohne zu wissen, wohin er führte.
„Numan, glaubst du, dass wir… den Traum wirklich leben können? So wie wir ihn uns wünschen?“ fragte Muna leise. Sie trat näher an den Tisch, betrachtete nachdenklich die helle Linie am Rand ihrer Tasse, als suche sie darin eine Antwort – verborgen im Schweigen von Zeit und Raum.
Numan hielt inne, seine Hand umklammerte die Tasse, doch er trank nicht. Seine Augen begegneten den ihren, voll leiser Fragen. Dann sprach er langsam, als wöge er jedes Wort:
„Ich glaube, wir leben den Traum – in vielen Momenten, Muna. Aber manchmal verlieren wir ihn, wenn wir aufhören, ihm nachzugehen.“
Muna sah ihn an, als könnte sie in seinem Blick den entfernten Ort erkennen, von dem er sprach. Sie lächelte sanft, fast traurig, und sagte:
„Du hast recht. Oft versuchen wir, den Traum zu leben, als wäre er etwas außerhalb von uns – etwas, das wir erreichen müssen… dabei liegt er in uns. Er wohnt in unseren Herzen.“
Numan schwieg, ein Atemzug lang. Dann verstand er, dass ihre Frage nicht bloß dem Traum galt, wie man ihn mit dem Verstand erfassen würde – sondern jener Wahrheit, die mit dem Traum verschwimmt. Einer Wahrheit, die sich nicht im Außen zeigt, sondern an die Wände der Seele geschrieben steht.
„Ja…“, sagte er leise und trat näher zu ihr. Die Entfernung zwischen ihnen schien zu schrumpfen, fast wie ein Einatmen des Schicksals. Dann fügte er hinzu:
„Vielleicht suchen wir genau jenen Moment, in dem sich Traum und Wirklichkeit berühren. In diesem Moment wird alles möglich. Alles.“
Muna hörte ihm zu, als könne sie den Klang seiner Worte mit den Fingern greifen. Sie sah, wie sie sich zwischen ihnen niederließen – warm, weich, wie Licht, das einen Weg beleuchtet, den sie noch nicht beschritten hatten. Schließlich antwortete sie – zart, mit einer Stimme, die von innerer Bewegung zeugte:
„Ich bin mir nicht sicher, ob es diesen einen Moment wirklich gibt – in der Wirklichkeit. Vielleicht ist er nur ein Traum, der in uns weiterlebt.“
Numan atmete tief ein und ließ seinen Blick in Munas Augen verweilen. Dort schien etwas zu wohnen, das sich jeder Beschreibung entzog – ein stilles Echo des Unausgesprochenen. Er spürte, dass diese Augenblicke mit ihr mehr waren als bloße Worte; sie waren stille Übergänge in eine tiefere Schicht seines Inneren.
„Glaubst du, Muna… könnten wir gemeinsam in diesem Traum verweilen?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch, als spräche er zuerst zu sich selbst.
Etwas Unbekanntes regte sich in Munas Brust – ein Gefühl, das zwischen den Zeilen ihrer gemeinsamen Zeit verborgen lag. War sie Teil seines Traumes? Oder war der Traum längst ein Teil von ihr?
Bevor die Gedanken sich in Worte kleiden konnten, hob sie den Blick zum Himmel, der sich in zarten Farben des Morgens kleidete, und sagte leise:
„Vielleicht leben wir diesen Traum bereits – doch müssen wir ihn gemeinsam suchen.“
Diese Worte waren mehr als eine Antwort; sie waren ein leiser Auftakt zu etwas Neuem, einem Kapitel, das sich zwischen ihnen zu entfalten begann – voller Fragen, Hoffnungen und unausgesprochener Gefühle.
Die Welt um sie herum schien innezuhalten, als wolle sie diesem Moment Raum geben. Ein neues Kapitel begann – eines, das Traum und Wirklichkeit, Worte und Hoffnung, Seelen und Verständnis miteinander verwebte.
An einem stillen Morgen durchflutete das erste Licht die Gänge der Universität. Numan und Muna machten sich auf den Weg zur Vorlesung über andalusische Literatur – ein Raum, in dem Vergangenheit und Gegenwart sich begegneten, und die Poesie Al-Andalus’ ihnen als Spiegel der Seele diente.
Nach der Vorlesung suchten sie eine ruhige Ecke im kleinen Café der Universität auf. Die Atmosphäre war durchdrungen von Stille und Nachdenklichkeit. Die servierten Kaffeetassen blieben unbeachtet, denn ihre Gedanken kreisten um das, was sie gerade gehört hatten – die andalusische Poesie, die wie ein leiser Fluss durch ihre Seelen floss.
Die Luft war erfüllt vom Duft alter Bücher, und die Stille des Raumes trug die Ehrfurcht jener Momente, die sie in der Vorlesung erlebt hatten – ein geistiger Spaziergang zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Muna, stets geneigt, die tiefen Bedeutungen in der Poesie zu ergründen, betrachtete ihre Tasse und sagte mit leiser, melancholischer Stimme:
„Glaubst du, Numan, dass die andalusische Poesie mehr ist als bloßer sprachlicher Schmuck? Sie ist ein Schrei aus den Tiefen der Erde, erzählt von einer verlorenen Zivilisation. Doch die Gefühle, die in diesen Versen wohnen, leben in uns weiter und flüstern uns Weisheiten zu, die Zeiten überdauern.“
Numan lächelte sanft, sein Blick glitt kurz über den Rand der Kaffeetasse, dann sagte er ruhig:
„Du hast recht. Die andalusische Dichtung war nicht nur ein Spiegel der Kultur, sondern auch ein Echo der Seelen. Sie sprach von den Herzen der Menschen – schwer vom Heimweh, voll Sehnsucht nach der verlorenen Zeit. Genau diese Empfindungen bildeten den Kern dessen, was die Dichter in ihre Verse legten.“
Er holte tief Luft, als wolle er den Klang der Worte zuerst in sich spüren, bevor er sie hinaustrug. Dann rezitierte er, mit einem Anflug von Wehmut in der Stimme, einige Zeilen des Dichters Ibn Zaydun:
„Getrenntsein trat an die Stelle der Nähe,
und unser schönes Zusammensein wich der Entfremdung.
Ich war wie einer, der stets in Hoffnung lebt,
und in meinem Herzen nach der Trennung etwas findet, das mich lebendig hält.“
Muna schloss für einen Moment die Augen. In der Stille zwischen den Versen schien etwas in ihr aufzuwachen – ein Echo vertrauter Empfindungen, das ihre Brust durchzog wie ein heimlicher Hauch. Sie spürte dieselbe Bitterkeit der Sehnsucht, die in Numans Stimme lag, als wäre der Geschmack der Erinnerung stärker als der Kaffee, der noch immer unberührt vor ihr stand.
Dann öffnete sie langsam die Augen, ihre Stimme klang nachdenklich:
„Hier verschmelzen Hoffnung und Schmerz. Gerade in diesem Gleichgewicht liegt die Kraft der Worte. Der Dichter betrachtet die Trennung, aber bleibt innerlich an das Licht gebunden. Unter dem Dach der Sehnsucht erlischt nichts – weder das Licht, noch die Spuren der Zeit.“
Einen Moment lang schwieg sie, dann fuhr sie fort, als hole sie eine Erinnerung hervor, die sie einmal gelesen hatte:
„Aber ich glaube, die andalusische Dichtung ist nicht nur eine Sprache des Schmerzes. Sie ist auch ein Raum für Hoffnung. Die Dichter besangen die Schönheit der Natur, die vergänglichen Momente des Alltags. Wie bei Ibn Khafāja, der die Schönheit al-Andalus mit einzigartiger Zärtlichkeit einfing. Erinnerst du dich?“
„Bei deinem Leben, diese schläfrigen Augen
sie tragen meine Seele – Gott, wie tief sie mich berühren.“
Ein leises Lächeln umspielte Numans Lippen, als er ihr zuhörte. Er neigte sich ein wenig vor, ließ die Worte auf sich wirken, bevor er mit sanfter Stimme erwiderte:
„Ja, dieser Klang – er trägt den Atem Andalusiens in sich. Eine Seele, die trotz der Trauer zu lächeln vermochte. Die weinte – und dennoch die Schönheit nie vergaß. Es erinnert mich an Ibn Zaydun, an seine Liebe zu Wallada. Seine Worte – sie tragen das Verlangen, die Hoffnung – selbst in der Trennung.“
Mit tiefer, beinahe singender Stimme las Numan die Verse vor – jeder Klang trug ein feines Beben in sich:
„O du, dem mein Herz in deinen Augen verpfändet,
mein Herz sei dein, auch wenn du fern und schweigsam bist.
Wie viele Verse verharren auf deinen Lippen,
voll Sehnsucht – nach Nähe lechzend, im Traum verzaubert.“
Muna hörte ihm aufmerksam zu, ihre Augen leuchteten, als sie ansetzte:
„Im Übrigen habe ich neulich Ṭawq al-Ḥamāma gelesen – das Halsband der Taube – von Ibn Ḥazm. Ein Werk, das als Schlüssel zum Verstehen von Liebe und zwischenmenschlichen Beziehungen gilt.“
Numan sah sie neugierig an. „Und? Wie empfindest du dieses Buch?“
Ein leises Lächeln glitt über Munas Gesicht, während sie antwortete:
„Es gehört zu den feinfühligsten Texten, die ich je gelesen habe. Es geht nicht nur um die reine, platonische Liebe, sondern auch um die vielen Schichten menschlicher Beziehungen. Ibn Ḥazm unterscheidet klar zwischen reiner Liebe und bloßer Begierde. Und was es besonders macht: Es enthält wahre Geschichten aus al-Andalus – Geschichten, die dem Leser näher sind als jede poetische Vorstellung.“
Numan nickte, sichtlich beeindruckt. „Ich erinnere mich, dass dieses Werk auch im Westen als eine der bedeutendsten Abhandlungen über die Liebe gilt – fast wie Ars Amatoria von Ovid, in seiner Art, das Leid und die Hoffnung der Liebenden zu beschreiben.“
Einen Moment lang schwebte Stille zwischen ihnen – aber es war keine Leere. Es war jene tiefe, bedeutungsschwere Ruhe, in der Worte nachhallen. In diesen Augenblicken verband sich das alte Andalusien mit dem Hier und Jetzt. Ihre Seelen schienen sich – getragen von Sprache und Empfindung – jenseits aller Worte zu begegnen. Wie ein Fluss, der über die Ufer tritt und sich dem weiten, offenen Meer anvertraut.

Kapitel Siebenundzwanzig Spiegel der Liebe zwischen Gestern und Heute
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Ein blasser, grauer Herbstmittag legte sich wie ein Schleier über die Fenster der Universitätsbibliothek. Feuchter Nebel tanzte zärtlich an den Scheiben, während Numan und Muna an einem hölzernen Tisch saßen, der einen weiten Blick auf den Campus freigab. Um sie herum lagen Bücher, verstreute Notizzettel, die der Wind durcheinandergebracht und ihre suchenden Hände wieder geordnet hatten.
Numan blätterte in einem Gedichtband von Nizar Qabbani, ein kindlich-neugieriges Glänzen in seinen Augen. Leise sagte er:
„Wie sehr sich die Liebesdichtung verändert hat, Muna… Von Ibn Zaydun bis Nizar – es ist, als hätte das Gedicht selbst sein Gesicht verwandelt, als trüge es nun ein neues Gewand.“
Muna lächelte, beugte sich leicht zu ihm und erwiderte mit leiser Begeisterung:
„Aber die Seele, Numan… die Seele ist geblieben. Sie ist dieselbe – eine tiefe, menschliche Sehnsucht. Nur die Sprache hat sich gewandelt, der Rhythmus befreit.“
Sie arbeiteten gemeinsam an einer Seminararbeit: Ein Vergleich der Liebeslyrik zwischen klassischer Metrik und moderner Form. Zwischen den Seiten der Zeit versanken sie in ihren Recherchen, auf der Suche nach dem, was einst war und was heute klingt.
Muna las nun von einem Blatt, das sie mit blauer Tinte selbst beschrieben hatte:
„Die klassische arabische Poesie basiert, wie du weißt, auf den Versmaßen von al-Ḫalīl und einer festen Reimstruktur. In der Liebeslyrik neigt sie zu Naturmetaphern – der Mond, die Blume, der sanfte Wind… Es ist eine keusche, vergeistigte Liebe, die mehr andeutet als ausspricht.“
Dann rezitierte sie mit warmer Stimme Verse von Ibn Zaydun – als würde sie damit den Schatten der al-Zahrāʾ zurück ins Licht rufen:
„Ich dachte an dich in al-Zahrāʾ, voll Sehnsucht,
Der Himmel war klar, die Erde ein farbenfrohes Bild.“
Numan flüsterte andächtig:
„Als würde er ein Bild in den Farben der Erinnerung malen… der Himmel, die Erde – beide wie das Herz des Liebenden, entflammt vom Echo der Vergangenheit.“
Muna nickte nachdenklich und fügte mit analytischem Ton hinzu:
„Achte auf das Metrum – wie gleichmäßig es pulsiert. Und die Sprache… so edel, so rein… doch sie lässt die Gefühle hinter einem zarten Vorhang zurück.“
Dann wandte sich Muna dem nächsten Blatt zu und sagte:
„Nizar hingegen… ist ein Dichter, der aus dem Käfig von Metrum und Reim ausgebrochen ist. Er lässt das Gedicht barfuß durch die Gassen der Stadt wandern, erfüllt von Kaffeeduft und den Seufzern der Liebenden.“
Numan lachte leise und erwiderte:
„Er ließ es sogar an die Wände schreiben und rief die Revolution vom Balkon des Herzens aus.“
Muna las aus Die Kaffeetassenleserin:
„Du wirst nach ihr suchen, mein Sohn, an jedem Ort,
den Wellen des Meeres wirst du nach ihr fragen,
und dem Türkis der Küsten.“
Mit tief versunkenen Augen sagte sie:
„Weder Meer noch Küste… allein die Liebe ist zur unruhigen Frage geworden, die umherwandert.“
Numan nahm den Stift und schrieb in den Rand:
„Nizars Liebe versteckt sich nicht hinter Bildern, sie zieht die Maske ab und spricht mit der Stimme des nackten Herzens.“
Mit dem Finger deutete er auf den Unterschied zwischen den Sprachen und meinte:
„Während die klassische Poesie singt: O Haus von Ablah im Durst, sprich!, sagt Nizar schlicht: Ich liebe dich… der Rest kommt danach.“
Muna lachte und fügte hinzu:
„Der Unterschied liegt nicht nur in der Sprache, sondern im Mut. Nizar begnügt sich nicht mit Sehnsucht, er fordert die Begegnung, er provoziert, er gesteht offen.“
Numan blätterte in seinem Notizbuch und sagte:
„Schau dir diese Tabelle an… Die klassische Poesie verehrt Treue und Erinnerung, malt die Liebe als himmlischen Zustand. Nizars Lyrik hingegen preist den Körper, die Freiheit und kämpft gegen Fesseln.“
Er zeigte auf den Titel des letzten Kapitels:
„Liebe als existenzielle Frage.“
Beide schwiegen einen Moment, als ob sie in persönliche Tiefen eintauchten.
Muna sprach, als wäre sie von einer inneren Stimme überrascht:
„Vielleicht, weil Liebe keine poetische Luxusfrage mehr ist… sondern eine Frage, der wir jeden Tag nachzugehen versuchen.“
Numan flüsterte:
„Und wir schreiben sie nieder – in unserem Schweigen, unserer Angst und im Warten auf das, was wir nicht wissen, ob es kommen wird.“
Muna zog ein kleines Buch aus ihrer Tasche, Der Ring der Taube, und fügte hinzu:
„Ich vergesse nicht, was Ibn Hazm sagte: Liebe ist die Verbindung von Seelen, die in ihren Eigenschaften übereinstimmen. Manchmal glaube ich, wir suchen im Gedicht nach uns selbst, nicht nach dem Geliebten.“
Numan sah sie lange an und sagte dann, als wolle er ein Gedicht in seinem Inneren entschlüsseln:
„Und manchmal schreiben wir diese Forschung… um davor zu fliehen, unsere Gefühle am Rand zu notieren.“
Die Sonne neigte sich bereits, und die Bibliothek füllte sich mit goldenem, träumerischem Licht. Beide blieben an der „Schwelle zum Traum“ – sie spielten mit der Poesie, wie Liebende das Geständnis umspielen.
Das Morgenlicht floss sanft durch die hohen Bäume, während die leichten Luftzüge den Duft feuchter Erde mit sich trugen. Auf der hinteren Veranda, wo Rosen verstreut blühten und Pflanzen ihre Farben entfalteten, saßen Numan und Muna nebeneinander. Jeder hielt eine Tasse Kaffee, und ihre Blicke schweiften in die ferne Weite.
Muna lächelte leise:
„Guten Morgen. Wie hast du letzte Nacht geschlafen? Hast du vor dem Einschlafen an etwas Besonderes gedacht?“
Numan hob seine Tasse, atmete den Duft ein, der wie ein neuer Duft zu ihm drang, und antwortete:
„Guten Morgen. Der Schlaf war ruhig, trotz der Gedanken, die in meinem Kopf kreisten. Doch ich spürte, dass ich diese Stille brauchte, die nach einem langen Gespräch kommt. Und du?“
Muna stellte ihre Tasse auf den Tisch und betrachtete die Blumen vor sich:
„Ich habe über unser Gespräch von gestern nachgedacht. Die Namen, die wir erwähnten… Fjodor, Tolstoi, Tschechow… Es scheint, als hätte das russische Denken einen besonderen Geschmack. Ich frage mich, ob wir solche Denker heute noch brauchen.“
Numan starrte gedankenverloren in die Ferne, seine Stimme getragen von Überlegung:
„Ich glaube, wir brauchen sie mehr denn je. Vielleicht haben wir heute nicht mehr jene, die so tief über die menschliche Seele sprechen wie sie, doch wir brauchen die großen Fragen, die sie stellten. Fragen nach Gut und Böse, nach Leben, nach Leid… In unserer Zeit scheint jeder vor den tiefen Fragen zu fliehen.“
Muna fragte:
„Glaubst du, die Welt von heute akzeptiert diese Fragen nicht? Sind die Menschen nicht zu sehr mit Oberflächlichkeiten beschäftigt?“
Numan lächelte nachdenklich, als wolle er die Wirklichkeit entschlüsseln:
„Vielleicht… aber ich glaube, die Antworten kommen von innen. Wir versuchen vielleicht zu entkommen, doch diese russischen Schriftsteller stellten sich den Fragen unerbittlich. Sie schrieen dem Leben entgegen und fragten: Was bedeutet es zu leben? Suchte Tolstoi nach dem Sinn des Lebens, als er alles hinter sich ließ? Fragte Dostojewski nach unserem täglichen Leid?“
Muna nahm einen Schluck Kaffee und meinte:
„Ich glaube, sie suchten durch das Schreiben zu sich selbst. Aber… müssen wir leiden, um eine Antwort zu finden?“
Numan lächelte leicht, betrachtete den Kaffee in seiner Tasse, bevor er antwortete:
„Vielleicht müssen wir das Leid nicht so erleben wie sie. Doch vielleicht brauchen wir Momente tiefen Schweigens – wie diesen jetzt –, um den schweren Fragen zu begegnen. Manchmal liegt die Antwort im Fragen selbst.“
Muna legte ihre Hände auf den Tisch und sah Numan an:
„Also meinst du, Literatur ist der Schlüssel zum Verstehen?“
Numan:
„Natürlich. Literatur und die Philosophie, die wir daraus schöpfen, sind jener Raum, in dem wir die Welt durch die Augen anderer sehen können. Sie sind eine Einladung, mehr zu leben, mehr zu denken – und manchmal mehr zu fühlen.“
Nach einem Moment des Schweigens schloss Muna die Augen, als wolle sie gerade das nachspüren, was eben gesagt wurde:
„Vielleicht ist das genau das, was uns gefehlt hat… mehr zu leben. Die schönen Augenblicke fern vom Lärm einzufangen.“
Numan lächelte und sah sie an, sein Schweigen spiegelte die Tiefe seiner Worte wider:
„Ich glaube, du hast recht. Das Leben ist nicht bloß eine Abfolge von ereignisreichen Tagen, sondern ein Sammelsurium von Momenten, die wir bewusst mit allen Details leben.“
In diesem Augenblick stockten die Worte zwischen ihnen, wie die Tautropfen, die auf den Blättern vor ihnen glitzerten. Der Kaffee war fast leer, doch ihr Gespräch schien unendlich fortzusetzen. Jeder suchte auf seine Weise einen Weg zur Antwort, verborgen in diesen stillen Dialogen, als öffnete jede Idee eine neue Tür zu einer tieferen Welt.
Muna mit einem sanften Lächeln:
„Lass uns den Kaffee bis zur letzten Tropfen genießen. Denn jeder Tag birgt eine neue Frage.“
Numan:
„Natürlich. Und jede Frage ist der Anfang eines neuen Traums.“
Draußen stieg die Sonne höher am Himmel, tauchte die Umgebung in warmes Licht – ein neuer Tag begann, voller Träume und Fragen.

An der Schwelle zum Traum – Teil 07