An der Schwelle zum Traum – Teil 01

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Für meine Mutter
deren stille Opfer und tiefer Glaube mich auf jedem Schritt begleitet haben.
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(verfasst von Numan Albarbari – geschrieben):
Ein Wort an die Leserinnen und Leser
Diese Geschichte spielt in Syrien der späten 1970er Jahre, in einer Zeit des tiefen sozialen Wandels und politischer Erstarrung. Sie erzählt vom Leben eines jungen Mannes aus dem ländlichen Raum, der zwischen Tradition und Moderne, zwischen familiären Erwartungen und eigenen Träumen seinen Weg sucht.
Die Schauplätze – vom kleinen Stoffladen in der Altstadt von Damaskus bis zu den engen Gassen des Dorfes – sind nicht bloße Kulissen, sondern Spiegel innerer Konflikte. Der Kontrast zwischen Stadt und Land, Bildung und Armut, Freiheit und Anpassung bildet den emotionalen und politischen Hintergrund dieser Erzählung.
„An der Schwelle zum Traum“ ist keine politische Abrechnung – und doch kann man zwischen den Zeilen das Zittern einer Gesellschaft spüren, die ihre Jugend in Unsicherheit leben lässt. Es ist die Geschichte eines Suchenden – und einer Hoffnung, die sich gegen alles stemmt, was sie zu ersticken droht.
Ich lade Sie ein, mit offenen Augen und offenem Herzen einzutreten in eine Welt, die zugleich fern und vertraut ist – und vielleicht ein Echo in Ihrer eigenen Erfahrung findet.
– Numan Albarbari

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Bevor es beginnt
Numan kehrte nach Hause zurück – nach einer Woche voller Prüfungen, die er an seiner Privatschule im Herzen von Damaskus verbracht hatte. Noch haftete in seinen Augen eine Müdigkeit,
„als hätte die Zeit ihm eine Stille aus der Seele geraubt, deren Fehlen er erst spürte, als er heimkehrte.“
Seine Rückkehr war wie ein stummes Warten am Vorabend einer entscheidenden Stunde – ein Lauschen auf das Echo des Ergebnisses, bevor es ausgesprochen wird.
Hier – an der Schwelle zwischen Hauptstadt und Land – verlangsamt sich das Licht, bevor es aufgeht. Die Seele zögert, bevor sie ihrem Schicksal entgegentaumelt.
Zwei Orte, die nicht nur durch Geografie getrennt sind – sondern durch einen tiefen, unsichtbaren Riss im Innern, spürbar in jedem Herzschlag.
Die Hauptstadt war für ihn der Ort des Lernens und der Prüfungen in diesem Jahr gewesen – das Zentrum seines inneren Kampfes um Selbstüberwindung.
Das Dorf dagegen bedeutete Rückkehr: zur Zärtlichkeit, zur Erinnerung, zum einfachen Kern des Lebens.
Doch diesmal trug sein Herz etwas Ungewohntes in sich – ein unbekanntes Gefühl, eine Mischung aus verwirrender Ungewissheit und einem zarten Hoffnungslicht, das wie ein Faden durch die Dunkelheit sickerte.
Der Sonnenuntergang über seiner Stadt Douma, im ländlichen Umland von Damaskus, floss sanft über den warmen Abend – als wollte er den Weg seiner Rückkehr bereiten.
Die Lichter der engen Gassen funkelten nun schüchtern, beleuchteten leise den Pfad zum Viertel as-Sāḥa, bevor sie langsam verblassten.
Trotz der Erschöpfung, die zuerst seine Gedanken und dann seinen Körper zermürbte, spürte er in sich eine schwer zu erklärende Sehnsucht.
Kaum hatte er die Schwelle des Hauses überschritten, da floss auch schon die Stimme seiner Mutter in sein Ohr – wie ein lang ersehntes Lied:
„Numan! Endlich bist du da, mein Augapfel…
Sag mir, hat dich die Prüfung sehr erschöpft?“
Ein müdes Lächeln huschte über sein Gesicht, doch seine Augen leuchteten leise – als wolle er eine Freude verbergen.
Und mit schwacher Stimme flüsterte er:
„Ja… es war anstrengend, Mama. Aber… ich weiß nicht – irgendetwas in mir hat sich verändert.
Der Erfolg ist zum Greifen nah. Ich kann ihn fühlen!“
Ihr Gesicht leuchtete auf – wie eine alte Öllampe, die in der Dunkelheit der Seele entzündet wird.
Sie trat zu ihm und umarmte ihn mit all jener Wärme, die nur eine Mutter schenken kann.
Leise sagte sie, während sie ihn an sich drückte:
„Du bist unser Held, Numan… unser ganzer Stolz.
Wir haben mit dir geträumt, während du gewachsen bist – und wir haben durchgehalten, bis dieser Augenblick kam.
Ich glaube an dich – und ich weiß, dass du etwas erreichen wirst, das deiner Mühe und deiner Würde gerecht wird.“
Ihre Worte klangen wie ein leiser Widerhall jenes platonischen Glaubens an das absolute Gute – als würde die Mutter selbst zum Spiegel des Traums, zum Mittelpunkt der Hoffnung, zum emotionalen Gravitationszentrum werden. In jenem Moment, als sie ihn umarmte und sagte:
„Du bist unser Held“,
war der Sonnenuntergang kein bloßes Bild mehr am fernen Horizont, sondern eine existentielle Stunde, in der das Leben für Numan plötzlich Sinn bekam. Ihre Stimme glitt in sein Herz, erschütterte ihn in der Tiefe.
Sie hatte immer an ihn geglaubt – an seine Fähigkeiten, an seine Träume. Trotz der Härten des Lebens, trotz aller Widersprüche, hatte sie ihre ganze Hoffnung auf diesen einen Sohn gesetzt.
Und genau in dieser Minute erschien sein Vater in der Tür – angezogen in seiner schlichten Hauskleidung, wie an jedem freien Tag, von den Stimmen herbeigelockt.
Doch sein Gesicht sprach Bände – vom Stolz eines Vaters, der im Sohn eine Fortsetzung seiner eigenen Hoffnung erkennt.
Er trat näher und sagte leise, mit einem Ton voll stiller Würde:
„Ich bin stolz auf dich, Numan… aber ich weiß, dass du hier nicht stehen bleiben wirst, oder?“
Numan blickte auf – zuerst zum Vater, dann zu den Händen seiner Mutter, die ihn immer noch hielten.
Er fühlte: Dies war die Schwelle. Die Schwelle zur Entscheidung. Die Schwelle zum Traum.
Ein Moment dichter Stille senkte sich über sie. Dann sagte er mit fester Stimme, erfüllt von Klarheit:
„Ich habe mich entschieden, Vater, Mutter…
Nach den Ergebnissen werde ich mein Studium fortsetzen.
Ich bereite mich vor – für das Ingenieurstudium.
Ich zögere nicht mehr.
Ich werde alles geben, was ich habe.
Eines Tages werde ich der Beste auf diesem Weg sein.“
Ihre Gesichter erhellten sich.
Es war eine Erklärung, nicht bloß über ein Studium – sondern über Selbstbestimmung, über das Erwachen des Traums, über die Geburt einer Wahl.
Die Eltern wechselten einen wortlosen Blick. Dann sagte der Vater ruhig:
„Dann, Numan… sind wir mit dir. In jedem Schritt, den du gehst.
Es ist dein Traum – und wir sind stolz auf dich.
Auf das, was du bist – und auf das, was du werden wirst.“
Numan lächelte – in diesem Lächeln zitterte ein leiser Hauch von Erlösung.
Der Entschluss war nun sein – und zugleich der seiner Eltern.
In ihren Augen lag ein stilles Glück, wie bei Menschen, die erfahren, dass das Schiff doch noch den Sturm überstanden hat.
Ein Traum beginnt im Inneren eines Einzelnen – doch wenn er wahrhaft ist, umfasst er schließlich alle.
Vielleicht war dies erst der Beginn – einer Reihe von Herausforderungen, von Begegnungen, die seinen Weg verändern würden.
Vielleicht würde er stürzen, und das Bild von sich selbst neu formen müssen.
Doch eines war gewiss:
Dieser Moment war der erste Schritt – auf der Schwelle zum Traum.
Ein Moment, zu dem er immer wieder zurückkehren würde.
Und sagen könnte:
„Dort begann ich.“
Dann sagte er:
„Danke euch. Alles, was ich jetzt brauche, ist euer Gebet.
Und euer Vertrauen.“
Und in genau diesem Moment, im warmen Schutz der Familie, spürte Numan:
Er war bereit, sein Leben zu verändern – nicht nur für sich selbst, sondern um Licht zu bringen in den Himmel derer, die er liebt.
So wie er es immer getan hatte, wenn er sich entschloss, den besseren Weg zu gehen.

Kapitel Null Erinnerung aus Stoff
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Der Laden war für Numan nie bloß ein Ort der Arbeit. Vielmehr lebte er in seinem Gedächtnis wie ein kleines Heiligtum weiter – ein Tempel aus Stoff und Staub, in dem Erinnerungen nicht bloß lagerten, sondern atmeten. Zwischen den Regalen vibrierte eine stille Poesie aus Zeit, Mühe und Hoffnung.
Die Stoffe, die dort aufgeschichtet lagen – rau oder weich, in gedeckten Tönen oder leuchtenden Farben – schienen das Doppelleben Numans zu spiegeln: jenes fragile Gleichgewicht zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen ehrgeizigem Streben und zwingender Notwendigkeit.
Mitten im Herzen von Damaskus, verborgen in einer der engen Gassen des alten Souk al-Harika, lag dieser unscheinbare Stoffladen. Kartons und Holzkisten quollen über mit Stoffballen; manche sorgfältig verschnürt in grobem Jute, andere fielen sacht über die Kanten der Regale wie fließendes Wasser. Dort hatte alles begonnen – die Geschichte eines jungen Mannes am Anfang seines Weges.
Der Laden war für Numan kein bloßer Sommerjob. Er war eine Zwischenstation, ein Ort, an dem er Kraft schöpfte für einen Weg, der weiterführte – hin zu einem Traum, der größer war als die engen Mauern, in denen er arbeitete.
Numan war kurz davor, einundzwanzig zu werden. Geboren in einem armen, tief religiösen Dorf, war er das älteste von mehreren Geschwistern und der erste Enkel seiner Großeltern. Als einziger in der Familie verfolgte er eine Ausbildung – in einem Haus, in dem Lernen kein selbstverständlicher Weg war, sondern ein steiniger Pfad voller Entbehrungen.
Sein Vater, ein Barbier, arbeitete hart in einem winzigen Laden, dessen Einkommen kaum ausreichte, um elf hungrige Münder zu ernähren. Seine Mutter verbrachte die Tage über die Nähmaschine gebeugt – eine alte Aghbani-Stickmaschine –, auf der sie traditionelle Damast-Muster in Stoff stickte, um das aufzuwiegen, was im Haushalt fehlte.
Schon früh hatte Numan verstanden, dass Bildung nicht allein mit guten Absichten zu meistern war. Sie forderte Opfer – und Geld. Viel Geld. Geld, das eine arbeitende Familie wie seine kaum aufbringen konnte.
Also begann er früh zu arbeiten – kaum hatte er die Grundschule beendet, da trug er bereits selbst zu seinem Lebensweg bei. Der Sommer war für ihn nie Urlaub, sondern Verpflichtung: ein Mittel zum Zweck, um die Schule weiter besuchen zu können, um irgendwann vielleicht Abitur zu machen.
Jener eine Sommer aber sollte anders werden.
Diesmal entschied er sich bewusst, bei Hajj Abu Mahmoud zu arbeiten.
Der alte Abu Mahmoud war ein Mann von Prinzipien – wortkarg, streng, gebückt von den Jahren, aber geistig wach. Sein Alltag war von einer fast heiligen Routine bestimmt, und er misstraute Zahlen, die nicht mit Stift und Papier festgehalten wurden. Selbst wenn er sie im Kopf blitzschnell erfassen konnte – ohne handschriftliche Ordnung war für ihn keine Buchung vertrauenswürdig.
Doch trotz seiner Strenge war der Alte fair. Und vielleicht war es genau diese Mischung aus Strenge und Verlässlichkeit, die Numan das Gefühl gab, hier – zwischen Stoffen, Staub und alten Gewohnheiten – nicht nur zu arbeiten, sondern zu wachsen.

Jeden Morgen um Punkt acht Uhr betrat der alte Abu Mahmud, der Besitzer des Stoffgeschäfts, den Laden. Zuerst prüfte er die Sauberkeit, strich mit der Hand prüfend über die akkurat gefalteten Stoffballen, achtete auf jedes Detail. Dann schrieb er leise den Tagesplan auf und diktierte ihn mit ruhiger.
Ein Monat war vergangen, seit Numan – einziger Mitarbeiter des Ladens – dort zu arbeiten begonnen hatte. Nach seinen Abschlussprüfungen in der zwölften Klasse hatte er sofort angefangen, und in dieser kurzen Zeit beeindruckte er durch Fleiß, Ordnungssinn und eine stille Entschlossenheit, die selbst dem skeptischsten Kunden auffiel.
Sein Antrieb war einfach, fast kindlich rein: Er wollte erfolgreich sein, das Abitur schaffen, studieren und damit vielleicht nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seiner Familie verändern. Ein Traum – leise, aber hartnäckig.
Die Prüfungsergebnisse waren endlich da. Numan hatte bestanden. Nicht glänzend, aber doch mit Würde. Es war kein Spitzenergebnis – doch es reichte. Es war genug, um den ersten Schritt auf einem langen Weg zu setzen.
An diesem Morgen kam er mit dem Zeugnis in der Hand in den Laden. In seinen Augen lag ein stilles Leuchten – eine Mischung aus Spannung und Freude, Hoffnung und Zweifel. Ein Gedanke kreiste in ihm:
„Ist das wirklich genug? Habe ich mir das so vorgestellt? War all die Mühe für dieses Ergebnis?“
Doch eine warme, innere Stimme antwortete:
„Du bist der Einzige in deiner Familie, der es überhaupt so weit geschafft hat. Jede Note auf diesem Blatt ist ein echter Sieg.“
Abu Mahmud nahm das Zeugnis entgegen, las schweigend. Dann hob sich ein feines Lächeln auf seinen Lippen.
„Mabrouk, mein Junge – Glückwunsch zum Bestehen“, sagte er schlicht.
Er ging zur kleinen eisernen Kasse, öffnete sie mit einem metallischen Klicken und zog drei Scheine zu je hundert Lira heraus. Mit einer sanften Geste steckte er sie Numan in die Jackentasche.
„Für heute hast du frei. Das hast du dir verdient.“
Doch nach einem Moment des Innehaltens fügte er augenzwinkernd hinzu:
„Aber zuerst gehst du zum Laden von Abu Ali auf dem Marjeh-Platz. Sag ihm, dass du von mir kommst, und hol zwei Platten seiner feinsten Süßigkeiten. Eine bringst du mit zurück – wir feiern hier mit den Nachbarn. Die andere nimmst du mit nach Hause. Deine Familie soll diesen Tag mit dir feiern, wie es sich gehört.“
Diese dreihundert Lira entsprachen einem ganzen Monatslohn.
Auf dem Weg zur Marjeh, die Tüte in der Hand, spürte Numan einen stillen Widerstand in sich:
„Ein ganzer Monat Arbeit für einen Tag Süßigkeiten?“
Aber er schüttelte diesen Gedanken ab. Nicht er war es, der das Geld ausgab – sondern derjenige, dem es gehörte. Und vielleicht war so ein Tag mehr als ein Luxus. Vielleicht war er ein Recht. Ein Zeichen, dass ein Traum beginnen durfte.

Numan kehrte mit drei Schachteln feinster Damaszener Süßigkeiten zurück und stellte sie behutsam auf den Schreibtisch.
Abu Mahmud lächelte und sagte:
„Bevor wir sie öffnen… nimm das hier. “
Er griff in den Tresor, zog drei weitere Hundert-Lira-Scheine hervor und reichte sie Numan mit einem warmen Blick.
„Aber, mein Herr… das ist zu viel!“
„Nein, Herr Numan, es ist nicht zu viel für jemanden, der Erfolg und Hingabe gezeigt hat. Du hast mein Herz erfreut… Wie oft habe ich mir in meiner Jugend gewünscht, meinen Eltern mit meinem Erfolg Freude zu bereiten, so wie du es heute getan hast. Doch ich habe es nicht geschafft.“
Zum ersten Mal öffnete Abu Mahmud sein Herz. Er durchbrach sein gewohntes Schweigen und offenbarte eine menschliche Verletzlichkeit, die er lange verborgen hatte.
Als er sagte: „Wie oft habe ich mir gewünscht, meinen Eltern mit einem solchen Erfolg Freude zu bereiten… und wie oft habe ich es versucht! Aber ich konnte es nicht“, schien er die Zeit zurückzudrehen. Seine Vergangenheit spiegelte sich in Numans Geschichte wider, als sähe er in ihm eine Version seiner selbst, die er nie gewesen war.
So wurde seine Entscheidung, zu feiern, mehr als nur ein Moment der Freude – sie wurde zu einem symbolischen Akt: Ein alter Stoffladen im Herzen eines historischen Marktes verwandelte sich in einen Ort der Anerkennung für das persönliche Wachstum eines Menschen, nicht für einen geschäftlichen Gewinn.
Abu Mahmud stand auf und sagte:
„Komm, lass uns einige Nachbarn einladen und feiern, wie es dir gebührt.“
An einem Sommertag in Damaskus feierte der alte Stoffladen nicht einen lukrativen Handel, sondern einen wachsenden Traum… Numan, der junge Mann vom Land, machte einen weiteren Schritt in Richtung einer lang ersehnten Zukunft.
In diesem Moment betrat ein Mann Ende vierzig den Laden. Er trug einen schwarzen Anzug, ein graues Hemd und eine Krawatte in Schattierungen von Grau bis Schwarz.
An seiner Seite war eine junge Frau mit heller Haut, etwa in Numans Alter. Sie trug einen kurzen schwarzen Rock, ein graues Kurzarmshirt und hielt ein Stück Stoff in der Hand.
Der Mann grüßte ruhig:
„Friede sei mit Ihnen.“
Abu Mahmud erwiderte mit seiner gewohnten, ruhigen Stimme:
„Und mit Ihnen der Friede und Gottes Barmherzigkeit und Segen.“
Dann kehrte er zu seinem Schreibtisch zurück, während Numan sich darauf vorbereitete, das zu erledigen, was er mit seinem Meister vereinbart hatte.
Der alte Mann rief mit klarer Stimme:
„Herr Numan, bitte… empfange die Kunden und hilf ihnen.“.
Numan blieb einen Moment lang stehen, direkt auf der Schwelle des Ladens. Dann kehrte er rasch zurück, mit kurzen, leichten Schritten, und stellte sich hinter den Verkaufstisch.
Ein freundliches Lächeln spielte auf seinem Gesicht, als er den Mann ansprach:
„Herzlich willkommen. Wie kann ich Ihnen behilflich sein, mein Herr?“.

Kapitel Eins Der Anfang
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Seine Worte galten dem Mann – ruhig und bestimmt – während seine Hände locker auf der langen Verkaufstheke ruhten, die sie voneinander trennte.
Er sah das Mädchen nicht an, auch nicht das kleine Stoffmuster, das sie ihm mit fester Hand entgegenschob. Ihre Stimme klang selbstbewusst, fast spöttisch, und ihre Augen funkelten herausfordernd:
„Wir suchen schon seit dem Morgen einen Stoff, der genau diesem Muster entspricht – in Farbe, Struktur und Haptik.“
Doch Numan ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Ohne auch nur einen Blick auf sie zu werfen, wandte er sich weiter an den Mann hinter dem langen Verkaufstisch, als wäre das Mädchen gar nicht vorhanden:
„Verzeihen Sie, mein Herr, aber wir verkaufen nur in Groß- oder Halb-Großmengen. Einzelstücke führen wir leider nicht.“
Das Mädchen, das inzwischen ungeduldig mit den Augen die Regale und Stoffstapel absuchte, erwiderte scharf:
„Aber jemand hat uns zu Ihnen geschickt. Man hat gesagt, Sie seien auf genau solche Stoffe spezialisiert, und dass wir hier sicher fündig werden.“
Numan neigte kaum merklich den Kopf, seine Stimme blieb höflich, aber bestimmt, als er sich erneut an den Mann wandte:
„Wie gesagt, mein Herr, wir verkaufen ausschließlich in größeren Mengen.“
Ein spöttisches Lächeln umspielte die Lippen des Mädchens, und ihre Stimme wurde schärfer, fast höhnisch:
„Dürfen wir uns das wenigstens ansehen? Vielleicht ist das, was wir suchen, ja tatsächlich dabei. Oder hältst du deine Ware für zu wertvoll für gewöhnliche Kunden wie uns? Oder gehören wir etwa gar nicht dazu? Oder glaubst du wirklich, wir wären nicht gut genug für deine Kundschaft?“
Numan blieb reglos, sein Blick fest auf den Mann gerichtet, als kämen die Worte von weit her:
„Bitte verstehen Sie, mein Herr…“
Plötzlich platzte das Mädchen heraus, laut und ungeduldig, beinahe schrill:
„Da ist er! Der Stoff! Dort oben im Regal! Genau der! Papa, das ist er – genau das, was ich gesucht habe!“
Trotz ihres lauten Ausbruchs blieb Numan gefasst, sein Ton unverändert ruhig:
„Es tut mir leid, aber wie gesagt – wir verkaufen nicht einzeln.“
Jetzt verlor sie endgültig die Geduld. Mit ausgestrecktem Arm deutete sie auf den Stoff und rief:
„Hol ihn runter! Na los! Beweg dich doch endlich! Was ist los – warum stehst du da so rum? Bist du taub oder einfach nur dumm?!“
Aus der Ferne beobachtete der Haj Abu Mahmoud die Szene schweigend, seine Miene durchdrungen von ruhiger Weisheit.
Numan sprach mit der ihm eigenen Höflichkeit, die er nie verlor:
„Mein Herr, ich kann Ihnen den Namen eines Händlers nennen, der nahe am Harika-Markt wohnt. Er ist der Einzige in dieser Gegend, der genau diese Art von Stoffen von uns kauft … Sie werden bei ihm sicherlich fündig.“
Der Mann nickte zustimmend und sagte:
„Danke, das wäre sehr hilfreich.“
Er nahm das Blatt aus Numans Hand, bedankte sich höflich und ergriff die Hand seiner Tochter, um aufzubrechen. Doch sie zog ihre Hand beharrlich zurück und sagte entschlossen:
„Zuerst müssen wir uns vergewissern!“
Dann trat sie auf Numan zu und rief ihm ins Gesicht:
„Ich bin diejenige, die hier spricht – nicht mein Vater! Bist du blind? Oder taub? Oder verstehst du einfach nicht?“
Trotz der Beleidigung blieb Numans Gesicht freundlich und zuvorkommend. Sein Schweigen hatte mehr Gewicht als jedes Wort, das er hätte sagen können.
Dies entfachte den Zorn des Mädchens nur noch mehr. Sie begann, eine Flut von Schimpfwörtern in einem Dialekt loszulassen, den Numan kaum verstand, deren Wirkung jedoch wie Hiebe auf sein Gesicht trafen.
Doch er bewahrte die Kontrolle, stand da wie eine Wand, die schweigend den Regen erträgt, ohne zu wanken oder Schwäche zu zeigen.
Mit ruhiger Stimme fragte er:
„Darf ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein, mein Herr?“
Jetzt erreichte der Ärger des Mädchens seinen Höhepunkt. Sie wandte sich zu Haj Abu Mahmoud und rief scharf:
„Findet ihr denn keinen klügeren Arbeiter als diesen Dummen? Gibt es in Damaskus keine besseren Leute, dass ihr ausgerechnet ihn anstellt?“
Langsam trat Haj Abu Mahmoud vor, seine Schritte ruhig und gelassen. Mit einer Stimme, die die Gereiztheit zu zügeln suchte, sagte er:
„Herzlich willkommen! Ich nehme an, ihr seid nach einer langen Reise in Damaskus angekommen und vielleicht etwas müde.
Ich lade euch ein, bei einer Tasse Tee ein wenig auszuruhen und in Ruhe miteinander zu sprechen.“
Das Mädchen erwiderte mit deutlichem Unmut:
„Danke für die Begrüßung! Anhand der Art, wie euer Mitarbeiter mit uns umgeht, sieht man, wie Gäste bei euch behandelt werden!“
Haj Abu Mahmoud antwortete sanft und behielt seine freundliche Tonlage bei:
„Bitte urteilen Sie nicht zu schnell, gnädiges Fräulein. Der junge Mann, der vor Ihnen steht, ist tatsächlich höflich und respektvoll. Nur hatte er bisher keinen Umgang mit jungen Damen – denn diese betreten unseren Laden normalerweise nicht, da wir, wie Herr Numan Ihnen erklärte, keine Einzelstücke verkaufen. Unser Geschäft richtet sich ausschließlich an Händler.“
Sie schrie:
„Das interessiert mich nicht! Ich bezahle aus eigener Tasche! Und du als Ladenbesitzer solltest darauf achten, deine Ware zu verkaufen, und dein Angestellter muss sich um die Kundschaft kümmern!“
Der Hajj antwortete freundlich:
„Deine Worte haben etwas Vernünftiges, doch ich habe von diesem jungen Mann nichts als Höflichkeit gesehen, obwohl du ihm wehgetan hast, blieb er fehlerfrei. Ich entschuldige mich für das Missverständnis.“
Dann deutete er auf die Schale mit Süßigkeiten und sagte:
„Übrigens, heute ist ein besonderer Tag für uns in diesem Geschäft. Herr Numan hat seine Abschlussprüfungen im naturwissenschaftlichen Zweig erfolgreich bestanden und brachte uns diese Süßigkeiten zum Feiern. Wir wollten die Nachbarn einladen, aber da ihr vor ihnen gekommen seid, seid ihr herzlich willkommen.“
Die junge Frau schwieg kurz, dann sagte sie mit leiser Stimme:
„Nein… danke. Wir wollen nur den Stoff kaufen und sofort gehen.“
Der Hajj erwiderte ruhig:
„Wie du willst.“ Und wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu.
Sie trat näher, ihre Stimme etwas entschlossener:
„Willst du deinem Angestellten nicht sagen, dass er uns ein Stück von diesem Stoff verkaufen soll? Oder hört er dich nicht? Oder wartet er auf einen Befehl, der nicht kommt?“
Er antwortete:
„Wir entschuldigen uns. Wir führen keine Einzelhandelsrechnungen, und Reste verkaufen wir hier nicht.“
Sie murmelte, während sie Numan ansah:
„Kein Wunder, dass niemand bei euch kauft, wenn ihr so behandelt.“
Dann wandte sie sich an den Hajj und sagte:
„Gut, ich kaufe den ganzen Stoff. Holt ihn runter für mich.“
Der Hajj bat Numan, den Auftrag auszuführen. Numan holte den Stoff herunter, legte ihn auf den Tisch vor seinen Meister und kehrte dann an seinen Platz zurück. Seine Augen waren gerötet, als wollten sie eine Träne verbergen, die nicht fallen wollte.
Das Mädchen musterte den Stoff sorgfältig, wickelte ein Stück davon um ihren Körper und betrachtete sich dann in einem kleinen Spiegel, den sie aus ihrer Tasche zog. Mit Augen, die eine lange unausgesprochene Geschichte verbargen, wandte sie sich zu ihrem Vater und flüsterte:
„Das ist er, Papa… genau so, wie ich es mir vorgestellt habe.“
Der Mann zog sein Portemonnaie hervor und reichte dem Hajj einen Bündel Geldscheine. Doch der Preis war hoch, und der Betrag reichte nicht aus. Er bat darum, den Rest später zahlen zu dürfen, während er zum Auto ging, um zurückzukehren.
Das Mädchen ging ihm voraus und wandte sich mit bestimmtem Ton an Numan:
„Trag den Stoff zum Auto, wir zahlen dort.“
Numan erstarrte für einen Moment. Wie sollte er das nach allem Gesagten tun? Doch er verbarg seine inneren Widerstände und die Flammen, die in seiner Brust loderten.
Der Mann sah ihn freundlich an und sagte:
„Könntest du uns bitte beim Tragen des Stoffs helfen? Wir werden dich nicht aufhalten, das Auto ist ganz in der Nähe.“
Numan blickte zu seinem Chefs, als suche er um Erlaubnis, etwas zu sagen, und antwortete dann leise:
„Ihr könntet einen der Träger dort draußen engagieren.“
Der Hajj nickte freundlich und lächelte:
„Bitte machen Sie sich keine Umstände wegen der Träger, Herr Numan. Es handelt sich lediglich um einen einzelnen, leicht zu tragenden Stoff, wie Sie sehen können. Legen Sie den Stoff einfach ins Auto, holen Sie den Restbetrag ab und kehren Sie rasch zurück.“
Dann fügte der Mann hinzu:
„Bitte, Herr Numan.“
Numan senkte den Blick und murmelte leise vor sich hin: „Leg den Stoff ins Auto… hol den Betrag… und komm schnell zurück.“
Zögernd nahm er den Stoff, der schwerer zu sein schien als erwartet – nicht wegen seines Gewichts, sondern wegen der Stille und dem Unbehagen, das er mit sich trug – und folgte dem Mann mit langsamen Schritten. Das Mädchen war bereits vorausgegangen, ihre Schritte sicher und entschlossen, als wollte sie mit einem Blick voller Rache sagen: „Folge mir…“ Sie ging voran, als ziehe sie hinter sich eine Welt heran, die nur ihr gehörte.

Kapitel Zwei Etwas Über die Grenze des Erträglichen
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Die Uhr schlug zwei am Nachmittag, doch Numan war noch immer nicht ins Geschäft zurückgekehrt. Die Siestazeit hatte begonnen; wie üblich in diesem ehrwürdigen Damaszener Basar schlossen die Großhändler ihre Läden.
Drei Stunden Mittagspause vergingen schwer und langsam für Hajj Abu Mahmoud. Während dieser Zeit war das Mittagessen beendet, und die Läden begannen nach und nach wieder zum Leben zu erwachen.
Er stieg aus seinem kleinen Oberzimmer hinab und fand die Ladentür noch immer verschlossen – als hätte das Fernbleiben eine Ewigkeit gedauert. Der Anblick hielt ihn einen Moment lang inne. Dann trat er näher, öffnete die Tür selbst, streckte den Kopf hinaus und blickte suchend nach rechts und links – als würde er einem gerade entschwindenden Schatten hinterherschauen.
Mit langsamen Schritten trat er ein. Er durchsuchte die Ecken und den kleinen Lagerraum, rief lautlos – doch von Numan keine Spur.
Hajj Abu Mahmoud setzte sich hinter seinen Schreibtisch, versunken in Gedanken, das Schweigen betrachtend. Nichts durchbrach die Stille außer dem Ticken der Uhr, deren Zeiger die Minuten stichelnd und zäh verrinnen ließen. Er empfing einige Kunden widerwillig, verschob die Ausführung ihrer Bestellungen – als wolle er in Numans Abwesenheit nichts Wesentliches unternehmen.
Das Warten zog sich hin – die Stunden fraßen sich durch ihn – bis Numan schließlich eintrat.

Mit schweren Schritten kam er herein. Eine seltsame Blässe hatte sich auf sein Gesicht gelegt – als hätte ein ganzer Lebensabschnitt ihn überrollt und ihm etwas entrissen, das nicht zurückzubringen war.
Nicht nur körperliche Erschöpfung lastete auf ihm, sondern ein tiefes Gefühl von Demütigung, das gleichermaßen Herz und Verstand durchdrang. Die Müdigkeit war im Gesicht zu lesen – doch in seinem Innersten blutete eine unsichtbare, brennende Wunde weiter. Es war halb acht, als er schweigend das Geld auf den Schreibtisch vor seinen Lehrmeister legte.
Hajj Abu Mahmoud hob den Blick, eine Mischung aus Verwunderung und Besorgnis spiegelte sich in seinem Gesicht. Mit sanfter Stimme fragte er:
„Wo warst du, mein Junge? … Warum hast du so lange gebraucht? … Was ist passiert?“
Doch Numan antwortete nicht. Er trat still zum kleinen Kühlschrank, nahm eine Wasserflasche, trank sie in einem Zug aus, dann setzte er sich einen Moment lang schweigend. Danach erhob er sich und begann, den Laden für die Schließung vorzubereiten – als wolle er diesen Tag so schnell wie möglich zu Ende bringen.
Es war ein langer Tag gewesen – außergewöhnlich in jeder Hinsicht. Als es gegen acht Uhr wurde, verabschiedete sich der Hajj und verließ den Laden in Richtung seines Hauses, während Numan zurückblieb, um die letzten Handgriffe des Abends zu erledigen.

Der Blick ins Dunkel
Sorgfältig schloss Numan den Laden. Er verriegelte die mittlere Tür, prüfte dann die seitlichen Schlösser von außen. Ein letzter, stummer Blick nach innen – ein Blick, der vielleicht mehr sagte als Worte – und dann ging er. Seine müden Schritte schleppten sich durch das schwächer werdende Licht in Richtung Bushaltestelle.
Er stieg in den Bus, setzte sich ans Fenster, lehnte die Stirn leicht gegen das kalte Glas. Draußen spannte sich die Dunkelheit über die Straßen, und Numan starrte regungslos hindurch – als suche er im Schatten verschwommene Bilder, die nur er allein zu erkennen vermochte. Bilder, die irgendwo in seinem Innersten flimmerten.
Der Fahrer bereitete gerade die Abfahrt vor, als sich plötzlich die Bustür öffnete – und Hajj Abu Mahmud einstieg. Er wirkte, als suche er jemanden.
Numan war da. Doch irgendwie war er nicht *wirklich* da.
Er bemerkte seinen Lehrmeister nicht. Sah auch niemanden sonst. Sein Blick blieb starr im Schemenhaften hinter dem zerkratzten Glas. Der Rest der Welt schien ausgelöscht.
Abu Mahmud setzte sich schweigend neben ihn. Kein Wort. Kein fragender Blick. Nur das leise Geräusch des Sitzens.
Numan blieb abwesend. Seine Augen hafteten an einem Punkt, der nicht existierte. Irgendetwas Unsichtbares, Namenloses, hielt ihn fest.
Der Fahrkartenkontrolleur kam, um das Geld einzusammeln. Ruhig zog Abu Mahmud seine Geldbörse hervor und reichte ihm den Betrag.
„Zwei Fahrgäste“, sagte er leise. Nicht mehr.
Fast eine Stunde verging. Der Bus fuhr durch das dunkle, schläfrige Damaskus. Und Schweigen regierte den Raum.
Als sich die Haltestelle näherte, an der Abu Mahmud gewöhnlich ausstieg, erhob er plötzlich die Stimme – fest und deutlich:
„Der nächste Halt, bitte!“
Numan wandte sich überrascht zu ihm – ein Blick, voller Erstaunen, fast erschrocken. Erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass sein Lehrmeister die ganze Zeit neben ihm gesessen hatte. Eine leichte Röte stieg ihm ins Gesicht, seine Augen suchten verlegen eine Antwort auf die stumme Frage, die jetzt zwischen ihnen stand.
Abu Mahmud beugte sich leicht zu ihm und flüsterte:
„Ich habe für dich bezahlt…“
Dann fügte er sanft, mit einem warmen Lächeln hinzu:
„Vergiss nicht, die zwei Schalen mit Süßigkeiten mit nach Hause zu nehmen…“
Er stand auf, trat zur Tür, doch bevor er ausstieg, drehte er sich noch einmal um, lächelte wieder – diesmal mit leiser Ironie:
„Vergiss sie diesmal nicht, ja? Du hast sie ja eben schon einmal im Laden stehen lassen…“
Er winkte zum Abschied, und sein Schritt verschwand in der Nacht – hinterließ jedoch in Numans Herz eine leise, stille Wärme, wie eine unausgesprochene Entschuldigung, die man nie vergisst.

Kapitel Drei Im Schoß der Familie
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Spät am Abend kehrte Numan wie gewohnt nach Hause zurück – umgeben von den Schatten der Müdigkeit und feinen Fäden der Sehnsucht.
An der Tür erwartete ihn seine Mutter mit einem Lächeln, das lange in ihr geruht hatte, wie eine Blüte, die erst jetzt aufging. Sie wartete nicht, um ihn wegen der späten Stunde zu tadeln – sondern um ihm das Glück ihres Herzens zu schenken, an diesem stillen, kostbaren Abend des Erfolgs.
Ihr erschöpftes Gesicht wirkte auf seltsame Weise leuchtend – als sei die Müdigkeit selbst ein Schmuck der Liebe. Den ganzen Tag hatte sie damit verbracht, ein Festmahl vorzubereiten, das ihrem fleißigen Sohn würdig war – dem Sohn, den die Mühe nicht gebrochen, sondern geformt hatte.
Um sie herum scharten sich die kleinen Geschwister, ihre Augen folgten jedem ihrer Schritte, ihre Nasen sog der Duft des Essens ein, der durch Türen und Fenster drang wie die stille Verheißung eines Festtags. Doch sie warteten nicht nur auf das Abendessen – sie warteten auf Numan. Auf das Wiedersehen. Auf das stille Fest seines Triumphs.
Mit müden Schritten trat er ein, seine Stimme – leise, fast tastend – sprach den Friedensgruß. Darin lag etwas von Erschöpfung. Etwas von Enttäuschung.
Doch in dem Moment, als sein Blick auf das leuchtende Gesicht seiner Mutter fiel, auf die fröhlichen Mienen seiner Geschwister – da durchströmte ihn eine Wärme, die wie ein stilles Licht durch seine Brust glitt und Müdigkeit und Bitterkeit davontrug.
Ein scheues Lächeln huschte über seine Lippen, während er beide Arme hob, um die beiden Schalen mit Süßigkeiten zu überreichen – als reichte er ihnen sein Herz, voller Dankbarkeit.
Kaum hatten die Kinder den Inhalt erblickt, da brachen sie in Jubel aus – sie stürzten sich darauf, ließen die gedeckte Tafel hinter sich, auf die sie sich so lange gefreut hatten.
Die Mutter versuchte, Ordnung in die süße Unruhe zu bringen, hob eine der Schalen und sagte sanft:
„Diese hier reicht doch für alle… vielleicht sogar für zwei Tage oder mehr!“
Doch die Kleinen waren längst in einem Reich aus Zucker und Staunen versunken.
Numan bat sie, ihnen diesen Moment zu lassen – heute Abend nur – und setzte sich neben sie, um still zu essen. Während er aß, glitten seine Augen über die Gesichter der Kleinen – und in seiner Brust loderte ein stilles Licht der Zufriedenheit.
Die Mutter, während sie ihm Brot brach und reichte, sagte leise:
„Meine Freude ist unbeschreiblich, mein Sohn. Du hast mir das Herz höher schlagen lassen.“
Numan lächelte, zeigte mit einem Nicken auf seine Geschwister und antwortete:
„Hier – bei ihnen – finde ich das wahre Glück. Sieh doch nur, wie sie sich freuen!“
Die Mutter lachte und erwiderte:
„Sie haben stundenlang auf das Essen gewartet, haben es mit ihren Nasen erschnuppert und mit ihren Augen bewacht – und nun haben sie alles vergessen, nur wegen deiner Erfolgssüßigkeit!“
Da mischte sich seine ältere Schwester ein – mit einem stolzen Blick…
„Aber Mama, ich habe dir geholfen – vergiss das nicht!“
Der kleine Bruder ließ sich nicht lange bitten:
„Und ich bin zum Laden gegangen, um Olivenöl zu kaufen!“
Daraufhin begann ein fröhliches Wechselspiel zwischen den Geschwistern, jeder von ihnen wollte seine kleine Heldentat nicht unerwähnt lassen. Mit leuchtenden Augen und viel Gestik feierten sie ihre Beiträge, als ginge es um ein großes Abenteuer, das sie gemeinsam bestanden hatten.
Numan lachte herzlich und rief voller Zuneigung:
„Ihr seid die besten Geschwister der Welt… danke euch, danke dir, Mama – und dir, Papa. Ohne eure Geduld, eure Ruhe, eure stille Unterstützung beim Lernen – wäre ich nie so weit gekommen. Aber jetzt seid ihr dran! Auch ihr müsst euch um eure Schule kümmern… und denkt dran: Lasst etwas von den Süßigkeiten für Mama und Papa übrig!“
Die kleine Schwester umklammerte mit beiden Händen die Schale und protestierte empört:
„Und was ist mit den Nachbarskindern? Sag jetzt bloß nicht, du willst ihnen auch was abgeben! Die geben uns doch nie was!“
Die Mutter hob ruhig die Hand und sagte mit sanfter Bestimmtheit:
„Nein, mein Schatz… wir schauen nicht darauf, was andere tun oder nicht tun. Wir sind zufrieden mit dem, was wir haben – Gott sei Dank.“
Ein herzliches Lachen erfüllte die kleine Ecke des Hauses, wie ein warmer Wind, der die Sorgen mit sich nahm. Die Mutter erhob sich, begann die Teller zusammenzutragen und sagte in einem Ton, der Liebe und Fürsorge gleichermaßen ausstrahlte:
„So, jetzt wäscht sich jeder die Hände, putzt sich den Mund und die Zähne – und dann ab ins Bett. Und morgen früh erzählt ihr mir von euren Träumen.“
Die Kleine kicherte und rief neckisch:
„Nein, Mama! Ich will mit dem Geschmack der Süßigkeit im Mund einschlafen… damit ich von ihr träume!“
Die Mutter lächelte verschmitzt:
„Ach ja? Willst du etwa, dass die Kariesmonster in deinem Mund tanzen? Putz dir schön den Mund – sonst hören wir deinen Traum morgen früh nicht wegen des schlechten Geruchs!“
Als das Haus schließlich in Stille versank und alle Kinder friedlich schliefen, kehrte der Vater müde von der Arbeit zurück. Er wirkte erschöpft, aber in seinem Blick lag etwas Weiches, als die Mutter sich neben ihn setzte, ihm von allem erzählte, was geschehen war, und ihm einen kleinen Teller mit Süßigkeiten reichte – liebevoll angerichtet in einer alten Kupferschale, die sie aus ihrer Hochzeitsausstattung aufbewahrt hatte.

Der Vater runzelte die Stirn, sichtlich überrascht:
„Woher hat Numan das Geld für diese feinen Süßigkeiten?“
Die Mutter antwortete ruhig, während sie ihm einen warmen Blick zuwarf:
„Ich habe ihn nicht gefragt… Er arbeitet, der Tag war voller Freude und Erfolg. Ich wollte sein Glück nicht trüben.“
Der Vater sah sie nachdenklich an und sagte leise:
„Ich habe zwei Schachteln von bekannten Konditoreien gesehen… Ich möchte einfach wissen, wie er daran gekommen ist.“
Sie lächelte sanft und legte eine Hand beruhigend auf seinen Arm:
„Ich frage ihn morgen früh. Lass ihm für heute die Freude, ungetrübt.“
Er nickte und ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht:
„Vergiss nur nicht, auch etwas davon zu meinen Eltern zu schicken. Und zu meinen Geschwistern und ihren Kindern… oder wem immer du willst, der mit uns feiern soll.“
Die Mutter schmunzelte, ihre Stimme ein Flüstern voller Liebe:
„Daran hatte ich gedacht. Aber so viel ist es nicht, dass es für alle reicht.“
Als sie später die letzten Handgriffe in der Küche erledigt hatte, legte sie sich neben ihn. Zwischen ihnen breitete sich ein stilles Einverständnis aus, weich wie ein Gebet.
Noch vor der Morgendämmerung wachte Numan auf. Er wusch sich, breitete seinen kleinen Gebetsteppich in einer Ecke des Raumes aus – fern von den schlafenden Füßen seiner Geschwister – und betete zwei stille Rakʿāt. Dann hob er den Kopf, blickte zu seinem schlafenden Vater und flüsterte:
„Mach dir keine Sorgen, Vater… Ich bleibe, wie du mich kennst – so Gott will.“
Leise schlüpfte er zurück unter die Decke. Er sprach die letzten Verse des Schutzgebets und schloss die Augen.
Beim ersten Ruf des Muezzins erhob er sich erneut, verrichtete seine Gebete, dann begann er seine kleinen Geschwister sanft zu wecken. Mit ruhiger Hand half er beim Anziehen, deckte den Tisch: Brot, Oliven, Thymian, Joghurt und Tee.
Schließlich zog er drei Geldscheine aus der Tasche, hielt sie der Mutter entgegen und sagte:
„Mein Meister gab mir hundert Lira, damit ich Süßigkeiten kaufe. Danach schenkte er mir noch diese drei Scheine… Er sagte, es sei sein Geschenk zu meinem Erfolg. Das ist alles, was ich habe, Mama.“
Sie nahm das Geld, küsste liebevoll seine Stirn und sagte:
„Es gehört dir, mein Sohn. Das ist deine Freude – und unsere Freude über dich reicht uns vollkommen.“
Dann wandte sich die Mutter an Numans jüngere Geschwister. Ihre Stimme war fest, aber liebevoll:
„Und ihr – versprecht ihr mir, so zu sein wie euer Bruder?“
Alle riefen im Chor:
„Ja, Mama!“
Nur Numan blieb still, der Blick versonnen. Die Mutter beugte sich leicht zu ihm und fragte leise:
„Woran denkst du, mein Sohn?“
Er antwortete mit ruhiger Stimme:
„Ich überlege, ob ich bei Herrn Abu Mahmud aufhören soll zu arbeiten… Ich möchte meine Unterlagen für die Universität in Damaskus vorbereiten. Oder wenigstens für ein technisches Institut.“
Die Mutter nickte und sprach mit Zuversicht:
„Ich werde mit deinem Vater sprechen. Ich denke, er wird nichts dagegen haben. Du kennst deinen Weg am besten, Numan.“
In diesem Moment betrat der Vater die Küche, seine Stimme klang warm und wach:
„Guten Morgen!“
Alle riefen wie aus einem Mund:
„Guten Morgen, Baba!“
Er setzte sich neben Numan, legte die Hand auf dessen Schulter und sagte:
„Herzlichen Glückwunsch zu deinem Erfolg, mein Sohn.“
Numan nahm sanft die Hand seines Vaters und küsste sie. Dann flüsterte er:
„Gott segne euch, Vater, Mutter.“
Kurz darauf bat er darum, sich verabschieden zu dürfen. Der Vater begleitete ihn bis zur Tür, legte erneut die Hand auf seine Schulter und sagte ruhig:
„Fürchte meine Strenge nicht… Ich habe nur Angst um dich. Ich habe gehört, was du mit deiner Mutter besprochen hast – die Zukunft liegt vor dir, und du kennst sie besser als jeder andere. Ich vertraue dir.“
Dann drückte er ihm sanft die Schulter und fügte hinzu:
„Geh in Sicherheit, mein Sohn.“
Numan verließ das Haus früh am Morgen, auf dem Weg zu seiner Arbeit. Der Vater hingegen kehrte noch einmal ins Schlafzimmer zurück, um bis acht Uhr weiterzuschlafen.
In dieser Stunde begannen Numans jüngere Geschwister sich für den Weg zur _Kuttab_ vorzubereiten – jene kleinen, einfachen Häuser in der Nachbarschaft, wo eine alte Frau, bekannt unter dem Namen „al-Chuja“, sie unterrichtete. Sie kannte große Teile der Suren ʿ_Amma_ und _Tabārak_ auswendig und brachte sie den Kindern mit Geduld und mütterlicher Güte bei.
Wenn dann der Lärm des Morgens verklungen war und die Mutter ihre Hausarbeiten beendet hatte, setzte sie sich an ihre Ağbani-Stickmaschine. Mit feinen, farbigen Seidenfäden bestickte sie sorgfältig die Stoffstücke, ein Handwerk, das sie seit Jahren betrieb – still, ausdauernd und kunstvoll.
Die Ağbani-Stickerei war ihre Lebensgrundlage. Sie erhielt Stoffe und Garne von den Auftraggebern, und brachte sie später kunstvoll verziert zurück – durchwoben mit der Zierde ihrer Hände. Manchmal begleitete sie eines der Kinder beim Tragen der fertiggestellten Stücke.
Lange Zeit war Numan derjenige gewesen, der sie dabei unterstützte. Doch heute war die Reihe an seinen kleinen Bruder gekommen.

Kapitel Vier Eine Rückkehr, erneut
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Der Morgen war gerade erst über die engen Gassen der Altstadt von Damaskus hereingebrochen, als Numan den Stoffladen betrat – wie immer früher als das Licht selbst. Mit geübter Hand öffnete er die Schlösser, dann begann er damit, den Boden zu fegen und die Stoffballen sorgsam zu ordnen, als suche er darin nach einem verborgenen Schatz.
Bevor sein Lehrmeister eintraf, ließ er Wasser aufkochen und bereitete ihm eine Tasse aus zarten Blütenkräutern zu – ein stilles Morgenritual, das er nie vergaß.
Kurz darauf trat Haj Abu Mahmoud, der Besitzer des Ladens, ein. Seine Stimme hallte warm durch den Raum:
„Sabah al-kheir! – Einen guten Morgen!“
Numan erwiderte leise, fast ehrfürchtig:
„Sabah an-nur, Meister.“
Doch an diesem Morgen überraschte ihn der Haj mit einem feinen Lächeln und einem sanften Ton:
„Heute… hätte ich lieber einen Kaffee statt Kräutertee. Und wir trinken ihn gemeinsam. Kannst du Kaffee zubereiten?“
Numan nickte und machte sich auf den Weg in den kleinen Nebenraum.
„Natürlich, Meister. Aber… verzeih mir – ich selbst trinke keinen Kaffee.“
Die Stimme des alten Mannes kam durch die halboffene Tür zurück, begleitet von einem kaum hörbaren Lächeln:
„Du wirst ihn trinken. Du hast mir noch nie einen Wunsch ausgeschlagen – oder?“
Numan antwortete mit einem müden Lächeln:
„Schon gut… wie du willst, Meister.“
Und während er die Tassen vorbereitete, murmelte er in Gedanken:
„Was ist schon Kaffee ohne eine Zigarette? Die beiden sind wie Zwillinge, unzertrennlich…“
Als der Haj ihn nach dem Zucker fragte, antwortete Numan einfach:
„So, wie du ihn magst.“
Einige Minuten später kehrte er mit einem kleinen Tablett zurück. Zwei Tassen schwarzer, duftender Kaffee und ein Glas kaltes Wasser standen darauf. Er stellte das Tablett auf das kleine Schubladentischchen und reichte dem Haj die erste Tasse mit einem angedeuteten, etwas gezwungenen Lächeln:
„Hier, Meister. Für dich.“
„Bitte sehr, mein Meister …“
Numan reichte ihm die kleine Tasse mit einer zurückhaltenden Geste, während der alte Mann ihn mit einem forschenden Blick musterte. Dann sagte er, leicht erstaunt:
„Du wirkst heute anders als sonst. Darf ich wissen, was dahintersteckt?“
Numan atmete flach ein, als wolle er ein Zittern unterdrücken. Dann antwortete er leise, mit einem angedeuteten Lächeln:
„Ach, nichts Besonderes… Nur ein Gedanke: Ich war mir sicher, dass du kein Freund des Kaffees bist.“
Der Alte lachte kurz, ein Laut zwischen Belustigung und Zuneigung.
„Stimmt. Aber heute wollte ich einen mit dir trinken – und hören, was gestern Abend passiert ist. Erzähl mir, was dich nach dem Verlassen des Ladens mit dem Stoff bis zu deiner Rückkehr kurz vor Ladenschluss beschäftigt hat.“
Numan blickte ihn einige Sekunden lang ernst an, als würde er abwägen. Schließlich sagte er ruhig:
„Aber, mein Meister… wirst du dich ärgern, wenn ich drei Bitten an dich richte?“
Der Alte hob erstaunt die Augenbrauen, dann lächelte er schief:
„Nur dieses eine Mal… werde ich es nicht tun. Los, sprich.“
Numan räusperte sich, seine Stimme war fest, doch in ihr lag ein leiser Schatten:
„Erstens – verzeih mir, aber ich möchte nicht über das sprechen, was gestern geschah. Zweitens – ich würde dir gern das Geld zurückgeben, das du mir gegeben hast. Die Süßigkeiten habe ich mit deiner ersten Großzügigkeit bezahlt.“
Er legte drei gefaltete Geldscheine ordentlich auf den Tisch. Der Alte betrachtete sie einen Moment lang schweigend, dann fragte er:
„Und drittens?“
Die Antwort kam ohne Zögern, aber mit einem Hauch von Wehmut:
„Bitte such dir einen neuen Mitarbeiter für den Laden. Ich bleibe, bis du jemanden gefunden hast … aber ich werde gehen.“
Es folgte eine kurze Stille, fast ehrfürchtig, während der alte Mann seine Gedanken sammelte. In seinem Blick lag keine Überraschung, eher ein stilles Einvernehmen. Dann sprach er mit ruhiger Stimme:
„Und sonst?“
In diesem Moment öffnete sich die Ladentür langsam. Ein Mann mittleren Alters, würdevoll in Haltung und Kleidung, trat ein. Mit bedächtigem Schritt näherte er sich und sprach in respektvollem Ton:
„Friede sei mit euch… Verzeiht bitte die Störung. Dürfte ich mich euch anschließen?“

Haj Abu Mahmoud erhob sich leicht aus seinem Sitz und antwortete mit warmer Stimme:
„Wa ʿalaykumu s-salām wa raḥmatu ʾllāh wa barakātuh – herzlich willkommen. Wir wollten gerade über das sprechen, was gestern Abend geschehen ist … Setzen Sie sich doch bitte.“
Währenddessen nahm Numan schweigend die Tassen und das Glas vom Tisch und verschwand damit in das Nebenzimmer. Dort ließ er sich langsam nieder und nippte stumm an seinem Kaffee, während in seiner Brust ein brennendes Gefühl aufstieg – eine Mischung aus Enttäuschung und innerem Widerstand. Dass sein Meister die Anwesenheit jenes Mannes so selbstverständlich akzeptierte, der geschwiegen hatte, als seine Tochter ihn vor den Augen der Leute gedemütigt hatte – das kränkte ihn zutiefst.
Der Mann wandte sich nun leise an Haj Abu Mahmoud und bat um ein Gespräch unter vier Augen. Der Alte drehte sich zum Nebenzimmer und rief mit fester Stimme:
„Herr Numan, mein Sohn! Hol uns bitte etwas Süßes aus dem Laden, von dem du gestern gesprochen hast … Das Geld liegt auf dem Tisch.“
Numan verließ wortlos den Laden. Etwa eine halbe Stunde später kehrte er zurück – mit einer Platte Baklava in der Hand. Ohne ein Wort zu verlieren, legte er einige Stücke auf einen kleinen Teller und reichte diesen seinem Meister. Dann drehte er sich um und verließ rasch den Raum. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite zündete er sich eine Zigarette an und wartete schweigend darauf, dass der Mann endlich ging.
Nach und nach trafen Kunden ein. Haj Abu Mahmoud bat sie geduldig zu warten, bis Numan zurückkehre.
Einer der Kunden winkte einem Träger heran. Als dieser eintraf, fragte er:
„Wo ist Numan?“
Der Träger deutete über die Straße:
„Dort drüben, auf dem Gehweg.“
Der Kunde nickte:
„Sei so gut und ruf ihn. Er soll dir zeigen, welche Ware für mich vorbereitet wurde – und dann bring sie zu meinem Wagen. Hier ist dein Lohn im Voraus.“
Er zeigte auf ein weißes Auto, das hinter einem kleinen LKW geparkt war.
„Die Heckklappe ist offen – pass auf die Ware auf.“
Der Träger drehte sich um und rief laut:
„Herr Numan! Mach uns die Arbeit nicht schwer – wir leben davon!“
Numan kehrte ohne ein Wort in den Laden zurück, deutete auf einen großen Karton:
„Nimm den da. Er gehört zu Abu Saids Bestellung. Bring ihn rüber – und wenn du willst, komm zurück, es gibt noch mehr zu tun.“
Die Kunden stellten Fragen, einer nach dem anderen. Numan antwortete allen mit ruhiger Höflichkeit und spürbarer Geduld. Einer wollte ein Stück Stoff zurückholen, das er zuvor dagelassen hatte. Numan sah ihn freundlich an und sagte bedauernd:
„Es tut mir leid, Abu Zuhair … Wir haben das Stück gestern verkauft.“
Der Händler bat darum, schnell jemanden zu organisieren. Numan wandte sich seinem Meister zu, der sogleich das Gespräch übernahm und dem Kunden versprach, sich darum zu kümmern.
Der fremde Mann stand derweil regungslos da, ließ seinen Blick nicht von Numan, dessen Schweigen jedoch von demonstrativer Gleichgültigkeit getragen war. Er verharrte lange am Eingang, als erwarte er etwas, das nicht ausgesprochen war.
Schließlich rief ihn Haj Abu Mahmoud mit ruhiger Stimme heran. Numan trat näher und antwortete höflich:
„Ja, mein Meister? Soll ich etwas holen?“
Doch der Alte zeigte auf den Mann und sagte:
„Nein … Aber Herr Ahmad möchte dich sprechen.“
Numan seufzte leise und murmelte:
„Na schön, in Gottes Namen … Was will er denn jetzt noch?“
Haj Abu Mahmoud richtete seinen Kaftan mit einer ruhigen, fast zeremoniellen Geste und antwortete mit einem stillen Lächeln:
„Es ist Zeit für das Gebet. Ich gehe zur Moschee.“
Er griff nach einer kleinen Tasche, in der ein Handtuch und ein Paar Sandalen lagen, und ging langsam zur Tür. Mit einem leichten, freundlichen Nicken verabschiedete er sich von beiden und ließ Numan zurück – an der Schwelle eines neuen Augenblicks. Einer, der so ganz anders war als alle stillen Nachmittage zuvor.

Kapitel Fünf Die Entschuldigung
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Der Mann streckte die Hand aus, mit einem ruhigen Lächeln auf den Lippen, und sagte leise:
„Friede sei mit dir.“
Numan hob den Blick, erwiderte den Gruß knapp und reichte ihm schließlich die Hand – zögerlich, als würde ihn etwas in seinem Innern zurückhalten. Doch die Pflicht des Augenblicks ließ ihn nicht ausweichen.
Der Besucher nahm Platz, hob dabei leicht die Hände, fast wie eine stumme Bitte um Erlaubnis. Seine Stimme war zurückhaltend, als er sagte:
„Haj Abu Mahmoud, der Inhaber des Ladens, hat mir von dir erzählt – wenn ich es richtig verstanden habe. Du bist ein junger Mann mit Prinzipien, einer, der nicht nach links oder rechts schaut, sondern geradeaus auf sein Ziel zugeht. Er hat viel von dir berichtet. Und ich finde, es ist an der Zeit, dass wir uns etwas besser kennenlernen.“
Er holte tief Luft, als müsse er einen inneren Übergang vollziehen, dann sprach er weiter:
„Ich werde nicht viel von deiner Zeit in Anspruch nehmen – ich weiß, dass du Verpflichtungen hast. Mein Name ist Ahmad Abd al-Karim. Ich bin Bauingenieur, sunnitischer Muslim, fünfundvierzig Jahre alt, aus Beirut. Ich habe ein eigenes Ingenieurbüro dort und bin Teilhaber in einem der größten Bauunternehmen des Landes – gegründet von meinem verstorbenen Schwiegervater. Später kamen auch ihr Schwager und weitere Familienangehörige hinzu, allesamt erfahrene Ingenieure und Unternehmer.“
Er hielt kurz inne, als müsse er einen inneren Knoten lösen, dann fuhr er leiser fort:
„Meine Frau und mein kleiner Sohn sind vor etwa einem Jahr bei einem tragischen Unfall in Beirut ums Leben gekommen. Seitdem bin ich allein mit meiner einzigen Tochter – Muna. Die junge Frau, die gestern bei mir war.“
Ein Moment der Stille trat ein, bevor er mit stockender Stimme weiter sprach:
„Seit jenem Tag dreht sich mein Leben nur noch um sie. Ich tue alles, damit sie den Verlust ihrer Mutter und ihres Bruders nicht spürt – damit sie sich nicht allein fühlt. Und gestern … als sie dich verletzt hat, Numan, schwöre ich dir, das war nicht ihre Absicht. Sie konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Ich habe mit ihr gesprochen – in einem Ton, den sie von mir nicht kennt. Und ich habe sie auf ihr Verhalten hingewiesen.“
Numan hob den Kopf langsam, seine Stimme von einem feinen Schatten Trauer durchzogen:
„Möge Gott den Verlorenen gnädig sein und ihnen das Paradies schenken … aber bitte sag mir: Was habe ich damit zu tun?“
Herr Ahmad lächelte sanft, mit einem Hauch von Wehmut, und antwortete:
„Du hast völlig recht, dich zu wundern. Was hast du damit zu tun? Warum sind wir überhaupt in Damaskus? Und warum suchten wir gerade diesen Stoff? Warum war Muna so verärgert, als sie sah, dass du ihn hattest – und warum erschienst du ihr in dem Moment nicht hilfsbereit?“
Numan spürte, wie sich die Atmosphäre im Raum verdichtete, als der Mann gegenüber tief Luft holte und mit ruhiger Stimme begann:
„Was ich dir jetzt erzähle, ist kein Versuch, das Verhalten meiner Tochter zu rechtfertigen. Es geht nicht darum, dass sie verwöhnt ist oder meine einzige Tochter. Es geht darum, dass sie mein ganzes Leben ist.
Sie ist ein sensibles, junges Mädchen, das vor nicht allzu langer Zeit ihre Mutter verloren hat. Die Bindung zwischen ihnen war tief, und der Verlust hat eine Lücke hinterlassen, die schwer zu füllen ist.“
Er hielt inne, zog ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und tupfte sich die Augen, die sich unwillkürlich mit Tränen gefüllt hatten. Seine Stimme war nun brüchig:
„Ihre Mutter kam bei einem tragischen Unfall ums Leben… ebenso wie ihr kleiner Bruder.“
Er fuhr fort, seine Stimme zitterte:
„Sie trug ein neues Kleid, maßgeschneidert von einem der besten Schneider, um bei der Abschlussfeier unserer Tochter Muna wie eine Königin auszusehen. Ihre Eltern, meine Schwiegereltern, hatten die Feier als Überraschung geplant, um Munas hervorragenden Schulabschluss zu feiern. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Auf dem Weg zum Hotel, das sie für die Feier reserviert hatten, ereignete sich der Unfall. Von dem Kleid blieben nur wenige Stofffetzen übrig, kaum erkennbar. Das größte Stück bewahrte Muna auf.
Seit Monaten sucht sie nach einem ähnlichen Stoff, um ein Kleid zu nähen, das sie an diesem besonderen Tag tragen kann – als Erinnerung an ihre Mutter, ihren Bruder und ihre Großeltern. Sie und ihre Tanten durchkämmten ganz Libanon, bis der Schneider, der das Originalkleid gefertigt hatte, ihnen sagte, dass der Stoff aus Damaskus stammte, speziell für besondere Anlässe. So kamen wir hierher. Seit einer Woche suchen wir täglich von morgens bis abends.“
Anfangs hatte Numan dem Mann mit einer gewissen Distanz zugehört, doch nun veränderte sich sein Ausdruck. Er lehnte sich vor, reichte dem Mann die Hand und sagte mit bewegter Stimme:
„Es tut mir leid, wenn mein Verhalten gestern unhöflich war. Aber warum habt ihr mich einfach stehen lassen? Ihr seid in Geschäfte gegangen, die euch nicht interessierten. Ich fühlte mich, als würdet ihr mich bestrafen, als wolltet ihr mich demütigen. Ich folgte euch wie ein Diener. Habe ich das falsch verstanden? Bitte verzeih mir, aber ich war verwirrt und verletzt.“
Er senkte den Blick und fuhr fort:
„Ich habe alles in mich hineingefressen, um meinen Stolz zu wahren… und aus Respekt vor meinem Meister. Er sah in mir seine unerfüllten Träume, vertraute mir Aufgaben an, die er selbst nicht vollenden konnte. Deshalb bat ich einige Händler und Träger, meinem Meister nichts von dem Vorfall zu erzählen. Ich mag ein einfacher Arbeiter sein, aber ich weiß, wie ich denke und wo ich stehe. Daher bitte ich dich, lass mich in Ruhe. Richte deiner Tochter meine Entschuldigung aus und mein Beileid zum Verlust ihrer Familie.“

Kaum betrat Haj Abu Mahmud das Geschäft, sprang Numan auf, entschuldigte sich noch einmal höflich beim Gast und eilte, seinem Meister an der Tür mit aufrichtiger Achtung zu begegnen.
„Möge Gott deine Gebete erhören, mein Meiser“sagte er mit gesenktem Blick.
Herr Ahmad nickte mit ruhiger Miene.
„Möge Gott unsere guten Taten annehmen – die deinen und die unseren.“
Er ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und griff nach einem Stapel Papiere.
„Konntest du das Anliegen von Abu Zuhair klären? Ich habe ihn vorhin in der Moschee getroffen, er fragte wieder danach.“
Numan trat näher, seine Stimme war kaum hörbar.
„Meister, das, was Abu Zuhair sucht… dieser Mann hat es. Bitte – ich möchte nicht noch einmal mit ihm sprechen.“
Dann richtete er sich auf und sagte laut und bestimmt:
„Mit deiner Erlaubnis gehe ich jetzt zum Mittagsgebet.“
Herr Ahmad nickte nur leicht, während sein Blick weiter über die Zahlen auf dem Papier glitt – als würde er darin nach etwas suchen, das jenseits der bloßen Buchführung lag.
Als Numan vom Gebet zurückkehrte, lag der gesuchte Stoff ausgebreitet auf dem Tisch. Vom Mann, der ihn bringen sollte, war nichts zu sehen.
Verwundert blickte Numan seinen Meister an. Der jedoch lächelte nur leicht, mit einem Tonfall, in dem Wärme und ein Anflug von Rätsel lagen.
„Miss bitte zweieinhalb Meter ab, trag es im Buch ein. Abu Zuhair kommt gleich, um es abzuholen. Und hol bitte gutes Geschenkpapier und eine ordentliche Tüte – von den Einzelhändlern in der Seitenstraße. Aber diesmal… bezahlst du selbst.“
Als er Numans überraschte Miene sah, fügte er hinzu:
„Wir sprechen später darüber.“
Numan nickte stumm, tat, wie ihm geheißen, und kehrte wenig später mit einer eleganten Tüte zurück. Er überreichte das sorgsam verpackte Stück Stoff seinem Meister.
„Hier, Meister.“
Wenig später trat Abu Zuhair ein, nahm das Paket entgegen, zahlte, bedankte sich knapp und verschwand.
Numan trat näher an den Schreibtisch und fragte vorsichtig:
„Wenn ich fragen darf – wie kam das zustande?“
Sein Meister lächelte.
„Ganz einfach. Da war ein Mann, der widerwillig eine ganze Stoffrolle kaufte, obwohl er nur zweieinhalb Meter brauchte – und das zu einem Preis, der ihn fast überforderte. Gleichzeitig suchte ein Händler dringend nach genau dem Rest. Ich habe beide Wünsche erfüllt… und dich zum Einzelhändler gemacht, der Herrn Ahmad den Stoff verkaufte. Der Gewinn? Der gehört dir – ohne dass du es gemerkt hast.“
Mit einer ruhigen Bewegung legte ein paar Geldscheine auf den Tisch, sah Numan freundlich, aber bestimmt an und sagte:
„Dieses Geld steht dir zu. Bitte, nimm es.“
Doch Numan erwiderte offen, ohne Umwege:
„Verzeih, mein Meister… Ich arbeite hier, bekomme meinen Lohn pünktlich. Ich glaube nicht, dass ich etwas getan habe, das mehr verdient.“
Der Meister schüttelte sanft den Kopf, sammelte das Geld wieder ein und legte es in eine kleine Kasse zurück. Seine Stimme war fest, aber von Wärme durchzogen:
„Dann werde ich es für dich aufbewahren – bis zu deinem letzten Arbeitstag hier.“
Er stand auf, klopfte sich das Gewand zurecht und fuhr fort:
„Es ist fast Zeit zum Schließen. Ich gehe jetzt nach oben, esse etwas und ruhe mich aus. Du schließt den Laden ab. Und… jemand wird draußen auf dich warten.“
Er hielt inne, als wolle er den nächsten Satz sorgfältig abwägen, dann sagte er mit einem leisen Lächeln:
„Es ist eine Einladung zum Mittagessen. Ich kenne den Absender – du kannst ihm vertrauen. Bitte enttäusche ihn nicht mit einer Ablehnung.“
Er warf Numan einen letzten Blick zu – einer, der Vertrauen, aber auch Erwartung ausdrückte.
„Ich vertraue dir. Triff die Entscheidung, die dir richtig erscheint… Aber vergiss nicht, am Nachmittag wieder aufzusperren. Gott mit dir.“
Mit leisen Schritten stieg die schmale Treppe hinauf, murmelte dabei still Gebete und Bitten um Vergebung. Numan blieb unten zurück, wie angewurzelt. In seinem Kopf drängten sich die Fragen:
– Wer ist dieser Mann?
– Warum lädt er mich ein?
– Soll ich vertrauen –
– oder höflich ablehnen?
Doch da war eine leise Stimme in ihm, kaum hörbar – sie sprach von Mut… vielleicht Neugier, vielleicht etwas Tieferem.
Etwas, das Gerechtigkeit roch – oder einfach… nach einer Chance.

Kapitel Sechs Eine Einladung zum Mittagessen
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Numan zog die schwere Glastür des Stoffladens langsam zu und trat hinaus auf den Bürgersteig. Es war früher Nachmittag, und die Sonne spiegelte sich träge auf der Motorhaube der vorbeischleichenden Autos.
Kaum hatte er einen Moment gewartet, da rollte ein schwarzer Buick gemächlich vor ihm zum Stehen. Der dichte Verkehr in der Altstadt ließ kaum Spielraum. Das Fenster auf der Fahrerseite glitt surrend hinab – und das freundliche Gesicht von Herrn Ahmad erschien im Rahmen, von einem leicht ungeduldigen Lächeln begleitet.
„Steig schnell ein, mein Junge! Die Straße ist eng, und die hinter mir hupen schon wie die Wilden!“
Numan zögerte. Einen Herzschlag lang nur. Dann öffnete er die Tür, setzte sich neben den Mann und schloss sie mit einem leisen Klicken.
„Assalāmu ʿalaykum,“ murmelte er schüchtern.
„Waʿalaykumu s-salām, lieber Numan! Und danke, dass du meiner Einladung gefolgt bist – ja, danke doppelt: Du hast mir geglaubt und mir vertraut. Das weiß ich sehr zu schätzen.“
Ahmad wusste genau: Ohne ein Wort von Scheich Abu Mahmoud – jenem stillen, würdevollen Alten, der für Numan wie ein Pfeiler der Kindheit war – hätte der Junge nie neben ihm Platz genommen.
„Ich hoffe nur, wir sind nicht allzu lange weg“, sagte Numan vorsichtig. „Ich muss spätestens um Viertel vor fünf wieder im Laden sein, um alles vorzubereiten, bevor wir am Nachmittag wieder öffnen.“
Ahmad nickte, beruhigend: „Ich habe mit ihm gesprochen. Alles ist geregelt. Wir werden nicht lange brauchen – lass uns nur erst diesem Verkehrschaos entkommen.“
Die Fahrt führte durch die lebendigen Gassen von Damaskus, vorbei an vertrauten Geräuschen und den Farben eines immerwährenden Marktes. Schließlich hielten sie vor einem eleganten Hotel. Ahmad wohnte hier mit seiner Tochter.
Oben, in einem schlichten, aber hellen Zimmer mit Blick auf den Innenhof, bedeutete er Numan, auf einem Sofa am Fenster Platz zu nehmen. Dann rief er mit einer Wärme in der Stimme, die mehr über ihn verriet als jedes Wort zuvor:
„Munā, mein Schatz! Wir sind da – und Herr Numan ist bei mir. Er hat darauf bestanden, dich persönlich zu sehen und sich bei dir zu entschuldigen!“
Numan erstarrte.
Sein Blick fuhr zu Ahmad, suchte in dessen Gesicht nach einer Erklärung.
„Entschuldigen? Wofür denn, bitte?“
Ahmad hob beschwichtigend die Hand, seine Stimme halb flüsternd, halb schelmisch:
„Frag nicht so genau, Numan. Mach einfach mit, nur dieses eine Mal… bitte.“
Doch Numan stand auf. Sein Blick ernst, seine Stimme klar – und ein Hauch Schmerz lag darin:
„Es tut mir leid. Ich kann kein Teil von einem Spiel sein. Was gestern geschah, reicht mir vollkommen. Ich möchte das nicht noch einmal durchmachen.“
Er verbeugte sich knapp.
„Ich gehe zurück zur Arbeit. Friede sei mit euch.“
Er hatte sich bereits zum Gehen gewandt, Schritte fest, fast trotzig, als Herr Ahmad ihm sanft den Arm berührte und mit ehrlichem Flehen flüsterte:
„Bitte… bleib. Nur dieses eine Mal. Ich bin es, der sich bei dir entschuldigen muss. Ich verlange nichts Unmögliches. Gib ihr nur eine Chance… ich bitte dich.“
Ein flüchtiger Glanz aus Hoffnung leuchtete in seinen Augen auf, während seine Hand sich an Numans Arm klammerte wie an ein letztes Stück Treibholz auf stürmischer See. Doch genau in diesem Moment durchbrach eine scharfe Stimme die Luft aus dem Inneren des Zimmers – zornig, verletzlich:
„Ich will ihn nicht sehen! Schick ihn weg, Papa! Ich will diesen Idioten nicht sehen!“
Es war Munas Stimme.
Trotzdem ließ Herr Ahmad Numans Arm nicht los. Mit einer ruhigen Geste bat er ihn, ihm ins Foyer im Erdgeschoss zu folgen, wo sie ungestört reden könnten.
In einer stillen Ecke der Empfangshalle nahmen sie Platz. Die Atmosphäre war gedämpft, beinahe zerbrechlich. Herr Ahmad senkte die Stimme, sein Blick verlor sich in der Tiefe, während ein leiser Schmerz seine Worte begleitete:
„Lass uns vergessen, was war. Lass uns neu anfangen. Ich habe dir von dem Unfall erzählt, ja – aber nicht davon, was er in ihrer Seele angerichtet hat. Für ein junges Mädchen, gleichzeitig Mutter, Bruder und Großeltern zu verlieren… das übersteigt, was ein Herz tragen kann. Seitdem ist sie nicht mehr dieselbe. Sie vertraut niemandem mehr. Jede Handlung, die sie als Angriff auf das Andenken ihrer Mutter sieht, trifft sie mitten ins Herz.“
Er hielt inne, ließ die Worte zwischen ihnen nachklingen, bevor er fortfuhr, diesmal mit festem Blick direkt in Numans Augen:
„Dein Verhalten gestern… deine Ruhe, deine Selbstbeherrschung – das war wahre Größe. Aber für Muna war es Kälte. Ein stiller Angriff. Dieses Tuch, das sie in der Hand hielt… es gehörte ihrer Mutter. Seit deren Tod hat sie sich nie davon getrennt. Du musst verstehen, sie lebt in einem ständigen Fluss von Erinnerungen, in dem jede Geste zur Bedrohung wird, jedes Lächeln wie eine Lüge wirkt. Sie läuft über eine offene Wunde – und verletzt dabei andere, ohne es zu merken.“
Eine Träne löste sich von seiner Wange, rann langsam hinab, während er tief ausatmete und fast tonlos sagte:
„Ich bitte dich nicht um Entschuldigung, weil du falsch gehandelt hättest. Ich bitte dich um einen Akt der Gnade – um ihr zu helfen, aus diesem Schatten zu treten. Sie hat schon zu viele Freunde verloren, zu viele Mauern errichtet. Auch in Beirut… haben wir Menschen verloren. Deshalb sind wir jetzt hier in Damaskus – auf der Suche nach einem Neuanfang. Nach einem neuen Stoff. Nach echter, damaszener Qualität.“
Dann lächelte er müde. Sein Blick blieb weich, seine Stimme fast brüchig, als er seine Hand ausstreckte:
„Fangen wir nochmal von vorn an? Ich brauche einen Freund wie dich, Numan. Irgendetwas sagt mir, dass Gott dich in mein Leben geführt hat. Ich weiß nicht warum, aber ich vertraue dir. Vielleicht, weil ich so müde bin. Vielleicht, weil der Schmerz dieses Verlusts mich verändert hat… noch mehr als meine Tochter. Seit ich meine Frau und meinen kleinen Sohn verloren habe, ist Muna mein ganzes Leben geworden. Sie ist mein Herz – mein zweiter Atemzug. Und ich will nichts mehr, als sie zu schützen.“

So offen er den Menschen auch gegenübertrat – tief in Herrn Ahmads Herz wohnte ein ständiger Zweifel, ein stilles Zögern, das ihn daran hinderte, sich ganz und gar zu öffnen. Es war die Furcht vor Munas Ausbrüchen, vor dem Moment, in dem er sie enttäuschen, verletzen, im Stich lassen könnte. Dieses alte Schuldgefühl, das ihn wie ein Schatten begleitete, ließ ihn sogar seinen Stolz überwinden – nur um sie zu retten.
Numan blickte auf die ausgestreckte Hand. Einen Moment lang verharrte er – dann nahm er sie ruhig und sagte:
„Ihre Freundschaft ehrt mich, Herr Ahmad. Und ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann. Aber… was Ihre Tochter betrifft – das ist etwas anderes. Ich kann keine Beziehung zu ihr aufbauen – kein Gespräch, nicht einmal einen Blick. Bitte verstehen Sie das.“
Ein stilles, trauriges Lächeln huschte über das Gesicht des alten Mannes. Seine Antwort kam leise, fast wie ein Seufzer:
„Du hast recht, mein Sohn… und trotzdem: Danke. Nur noch eins – darf ich dich morgen zu einem einfachen Mittagessen einladen?“

An der Schwelle zum Traum – Teil 02